Warum Kinder ihre Aussagen widerrufen

In Gerichtsverfahren wegen sexualisierter Gewalt sind die Betroffenen oft das einzige Beweismittel. Deshalb ist eine Strafverfolgung sehr kompliziert, wenn es nur die Aussage der Kinder oder Erwachsenen gibt, denen Gewalt angetan wurde. Insbesondere Kinder machen oft widersprüchliche Aussagen oder offenbaren sich an der einen, leugnen die Aussagen aber bei einer anderen Person. Warum das so ist und welche Faktoren man dazu im Blick behalten muss, dazu gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse.

Redaktioneller Hinweis: Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung von Dr. Jan Gysi (Schweiz) aus seinem Newsletter übernommen. Wer sich auf seinem Newsletter eintragen lassen möchte, klickt bitte hier: https://updates-psychotraumatologie.mailchimpsites.com/ [Link zum Web-Archiv]

Widerruf von Aussagen von Kindern zu sexualisierter Gewalt

Baía, Pedro Augusto Dias, Isabel Maria Marques Alberto, and Débora Dalbosco Dell’Aglio.

“Predictors of recantation after child sexual abuse disclosure among a Brazilian sample.”

Child Abuse & Neglect 115 (2021): 105006.

https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2021.105006 [Link zum Web-Archiv]

Der Kern sexuellen Kindesmissbrauchs ist die Geheimhaltung. Verschiedene Faktoren spielen dabei eine Rolle:

  • Externe Faktoren, z. B. fehlende physische Beweise; familiärer Druck, der ein Kind davon abhält, den Missbrauch zu offenbaren
  • Bindung zum Täter, z. B. Grooming-Strategien
  • Interne Faktoren, z. B. kann ein Kind die Verantwortung für den sexuellen Missbrauch übernehmen oder Angst vor den möglichen Folgen einer Offenlegung haben

Die Offenlegung durch kindliche Opfer spielt eine zentrale Rolle bei der Aufdeckung von sexualisierter Gewalt an Kindern, um das Kind körperlich, emotional, sozial und juristisch schützen zu können. Es handelt sich dabei um einen dialogischen und interaktiven Prozess, der das kindliche Opfer und andere Beteiligte in Strafverfahren einbezieht.

Frühere Studien haben gezeigt, dass einige Kinder ihre früheren Berichte widerrufen, wenn sie in einem informellen Umfeld (z. B. zu Hause, in der Schule) oder bei formellen Vernehmungen erneut befragt werden. Dieser Prozess des Widerrufs erfolgt auch dann, wenn die sexualisierte Gewalt nachgewiesen wurde oder frühere Berichte für glaubhaft befunden wurden.

Folgende Risikofaktoren wurden in verschiedenen Studien für das Verleugnen von Missbrauch nach ersten Offenlegungsberichten beschrieben:

  1. Familiäre Beziehung zwischen Opfer und Täter
  2. Weiterhin andauernde sexualisierte Gewalt
  3. Offenlegung gegenüber Menschen, die nicht zur Familie gehören
  4. Langes Zeitintervall zwischen Gewalt und Offenlegung
  5. Mangel an Unterstützung durch nicht-missbrauchende Familienmitglieder (in der Regel nicht-missbrauchender Elternteil)
  6. Unglaube durch nicht-missbrauchenden Elternteil
  7. Junges Alter der Kinder
  8. Nicht-missbrauchender Elternteil ist ökonomisch von missbrauchendem Elternteil abhängig

Folgende Faktoren seitens Kinderschutzbehörden und Justiz wurden als Risikofaktoren gefunden:

  1. Empfehlung, den Kontakt zwischen Kind und mutmasslichem Täter beizubehalten
  2. Zahl der Befragungen des Kinds

In dieser Untersuchung wurden folgende Risikofaktoren für den Widerruf von sexualisierter Gewalt beschrieben:

  1. Sexualisierte Gewalt durch einen Elternteil
  2. Mangel an Unterstützung durch nicht-missbrauchenden Elternteil
  3. Erste Offenlegung nur gegenüber einer Person in informellem Kontext
  4. Ein Zeitintervall von mehr als einer Woche zwischen erster Offenlegung und erster polizeilicher Befragung
  5. Mehre formelle Befragungen des kindlichen Opfers

Im Schlusssatz fügen die Autor:innen hinzu: Widerruf von sexualisierter Gewalt ist ein Prozess und kein isoliertes Ereignis.

Redaktioneller Hinweis: Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung von Dr. Jan Gysi (Schweiz) aus seinem Newsletter übernommen. Wer sich auf seinem Newsletter eintragen lassen möchte, klickt bitte hier: https://updates-psychotraumatologie.mailchimpsites.com/ [Link zum Web-Archiv]