Wie traumatische Erinnerungen sich von autobiografischen Erinnerungen unterscheiden
Für viele Gewalttaten ist die Erinnerung der Betroffenen entscheidend für die Chance, diese Taten strafrechtlich verfolgen zu können. Eine Forschungsgruppe hat nun neurobiologisch nachgewiesen, dass autobiografische Erinnerungen sich in mehreren Punkten sehr deutlich von trauma-assoziierten Intrusionen und traumatisch bedingten Flashbacks unterscheiden. Dies hat Konsequenzen für die Behandlung, aber auch für die juristische Seite. Bei traumatischen Erinnerungen führen Befragungen nämlich nicht zu einem verwertbaren Ziel – obwohl sie laut dieser Forschungsgruppe sehr verlässlich sind und nicht im Nahhinein verändert werden.
Redaktioneller Hinweis: Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung von Dr. Jan Gysi (Schweiz) aus seinem Newsletter übernommen. Wer sich auf seinem Newsletter eintragen lassen möchte, klickt bitte hier: https://updates-psychotraumatologie.mailchimpsites.com/ [Link zum Web-Archiv]
Kearney & Lanius (2024) diskutieren in ihrem im «Nature Mental Health» erschienenen Artikel “Why Reliving is Not Remembering and the Unique Neurobiological Representation of Traumatic Memory”, warum traumatische Erinnerungen eine einzigartige neurobiologische Struktur aufweisen, die sie grundlegend von autobiografischen Erinnerungen unterscheidet. Während autobiografische Erinnerungen bewusst abgerufen und in einen zeitlichen Kontext eingeordnet werden können, zeichnen sich traumatische Erinnerungen durch ein fragmentiertes, sensorisch-motorisches Wiedererleben aus, das sich der bewussten Kontrolle entzieht.
Neurobiologische Grundlagen traumatischer Erinnerungen
Autobiografische Erinnerungen entstehen durch die Integration sensorischer und motorischer Erfahrungen in übergeordnete kognitive Netzwerke wie das Default Mode Network (DMN). Dieses ermöglicht eine klare Unterscheidung zwischen Gegenwart und Vergangenheit und sorgt für eine flexible Verarbeitung von Erinnerungen.
Traumatische Erinnerungen hingegen bleiben in niederschwelligen sensorisch-motorischen Prozessen isoliert und können nicht in eine kohärente autobiografische Erzählung integriert werden. Sie werden durch sensorische Reize unwillkürlich reaktiviert und rufen intensive emotionale und körperliche Reaktionen hervor, die das Erlebte als gegenwärtig erscheinen lassen.
Unterschiede zwischen autobiografischen und traumatischen Erinnerungen
Merkmal | Autobiografische Erinnerung | Trauma-assoziierte Intrusionen | Traumatische Erinnerungen (Flashbacks) |
Zeitliche Struktur | Vergangenheitsbezogen | Gegenwartsbezogen | Vergangenheit wird als Gegenwart erlebt |
Abruf | Willentlich | Unfreiwillig | Unfreiwillig |
Erleben | Nicht immersiv | Nicht immersiv | Vollständig immersiv |
Veränderbarkeit | Kann mit neuen Informationen aktualisiert werden | Bleibt oft unverändert | Bleibt unverändert |
Bewusstseinskontrolle | Hohe Kontrolle | Teilweise Kontrolle | Geringe Kontrolle |
Diese Unterschiede erklären, warum klassische erinnerungsbasierte Befragungsmethoden in der Traumabehandlung oder im juristischen Kontext oft unzureichend sind.
Neurobiologische Mechanismen hinter traumatischen Erinnerungen
- Subkortikale und sensorimotorische Netzwerke:
- Traumatische Erinnerungen sind mit einer Hyperaktivierung subkortikaler Strukturen wie des periaquäduktalen Graus (PAG) und der Amygdala verbunden, die für automatische Bedrohungsreaktionen zuständig sind.
- Eine anhaltende funktionale Kopplung zwischen dem PAG und dem DMN führt dazu, dass Erinnerungen nicht als vergangene Ereignisse erkannt, sondern als gegenwärtig erlebt werden.
- Veränderte sensorimotorische Verarbeitung:
- Die sensorischen und motorischen Netzwerke sind in PTSD-Betroffenen dysreguliert.
- Während sensorische Reize bei gesunden Personen in übergeordnete kognitive Netzwerke integriert werden, bleibt in PTSD eine Hypervernetzung mit dem DMN bestehen, wodurch sensorische Fragmente des Traumas dominant bleiben.
- Beeinträchtigung des Gedächtnis-Updates:
- Während sich autobiografische Erinnerungen durch neue Erfahrungen verändern, bleiben traumatische Erinnerungen aufgrund von Defiziten in den prädiktiven und integrativen Mechanismen des Gehirns statisch.
- Unverarbeitete sensorische Fragmente können nicht mit der aktuellen Realität abgeglichen werden, was zu wiederkehrenden Flashbacks führt.
Implikationen für Psychotherapie und Forschung
Die Erkenntnisse aus diesem Artikel haben bedeutende Konsequenzen für Therapieansätze und diagnostische Methoden:
- Klinische Praxis:
- Herkömmliche gesprächsbasierte Ansätze greifen oft zu kurz, da sie die sensorimotorische Fragmentierung traumatischer Erinnerungen nicht ausreichend adressieren.
- Effektive Interventionen sollten sensorische und motorische Prozesse gezielt einbeziehen, z. B. durch somatische Therapieansätze, EMDR, Neurofeedback oder körperorientierte Verfahren wie Somatic Experiencing.
- Juristische Bewertung traumatischer Erinnerungen:
- Die Annahme, dass traumatische Erinnerungen ähnlich wie autobiografische Erinnerungen abgefragt werden können, ist problematisch.
- Interrogationsmethoden, die sprachliche Kohärenz und Detailgenauigkeit fordern, sind für traumatisierte Zeug:innen oft ungeeignet und können zu Fehleinschätzungen führen.
- Zukunft der Forschung:
- Neurobiologische Studien sollten vermehrt sensorische und motorische Aspekte der Trauma-Reaktivierung untersuchen.
- Machine-Learning-Ansätze könnten dabei helfen, individuelle Muster in der Gedächtnisverarbeitung zu erkennen und personalisierte Therapieansätze zu entwickeln.
Fazit
Traumatische Erinnerungen unterscheiden sich grundlegend von autobiografischen Erinnerungen – sowohl in ihrer Phänomenologie als auch in ihrer neurobiologischen Repräsentation. Kearney & Lanius (2024) fordern daher einen Paradigmenwechsel in der klinischen und juristischen Betrachtung von Traumafolgestörungen. Die Integration von sensorischen und motorischen Erfahrungen in therapeutische Interventionen könnte neue Möglichkeiten eröffnen, um die Fragmentierung traumatischer Erinnerungen zu überwinden und Patient:innen zu helfen, ihre Vergangenheit in einen kontrollierten, erinnerbaren Kontext zu integrieren.