Selbstdiagnosen mit DIS

Es ist ein ewiges Dilemma: Sobald Menschen von Ritueller Gewalt oder Traumafolgestörungen wie einer Dissoziativen Identitätsstörung/Identitätsstruktur berichten, werden ihre Berichte als Argument genutzt, dass andere, die davon berichten, Dinge nicht selbst erlebt, sondern womöglich bei den Erstveröffentlichenden gesehen und “abgeschrieben” hätten. Die Social Media Plattformen wie Facebook, youtube, Instagram und TikTok haben vielen Betroffenen ermöglicht, ihre Erlebnisse selbst zu schildern und sich mit anderen zu vernetzen – gleichzeitig schafft das aber für die Zuschauenden die Möglichkeit, sich womöglich zu sehr damit zu identifizieren und ähnliche Symptome auch bei sich selbst zu entdecken. Eine Forschungsgruppe hat sich mit dem Thema “Selbstdiagnosen auf Social Media” auseinandergesetzt und die Folgen für die therapeutische Praxis beschrieben. (Lesehinweis der Infoportal-Redaktion: Unter dieser Studie verlinkte Dr. Gysi mehrere fühere Studien zu möglichen “Imitationseffekten”. Scrollen Sie im Beitrag einfach weiter nach unten.)

Redaktioneller Hinweis: Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung von Dr. Jan Gysi (Schweiz) aus seinem Newsletter übernommen. Wer sich auf seinem Newsletter eintragen lassen möchte, klickt bitte hier: https://updates-psychotraumatologie.mailchimpsites.com/ [Link zum Web-Archiv]

Selbstdiagnose von dissoziativer Identitätsstörung (DIS) auf Social Media – Herausforderungen für die klinische Praxis

Salter, M., Brand, B. L., Robinson, M., Loewenstein, R., Silberg, J., & Korzekwa, M. (2025). Self-Diagnosed Cases of Dissociative Identity Disorder on Social Media: Conceptualization, Assessment, and Treatment. Harvard Review of Psychiatry, 33(1), 41-48.

https://journals.lww.com/hrpjournal/fulltext/2025/01000/self_diagnosed_cases_of_dissociative_identity.4.aspx

In den letzten Jahren hat die Verbreitung von Inhalten über die dissoziative Identitätsstörung (DIS) auf Social-Media-Plattformen wie TikTok und YouTube stark zugenommen. Dies hat zu einem Anstieg der Selbstdiagnosen bei jungen Menschen geführt, die sich oft in Online-Communities organisieren und professionelle Bestätigung suchen.

Zentrale Erkenntnisse des Artikels:

  • Einfluss von Social Media: Die hohe Sichtbarkeit von DIS-Inhalten auf Plattformen mit Millionen von Views hat dazu geführt, dass viele junge Menschen sich selbst mit DIS diagnostizieren – oft auf Basis von Fehlinformationen.
  • Herausforderungen in der klinischen Praxis: Viele dieser Selbstdiagnosen entsprechen nicht den diagnostischen Kriterien. Während einige Betroffene tatsächlich unter dissoziativen Symptomen leiden, gibt es auch immitierte und fehldiagnostizierte Fälle.
  • Differentialdiagnostik erforderlich: Kliniker:innen müssen zwischen echten Fällen von DIS und durch Social Media beeinflussten Präsentationen unterscheiden. Einige junge Menschen entwickeln aufgrund sozialer Verstärkung online eine Identifikation mit der Diagnose, ohne die typischen traumabedingten Merkmale aufzuweisen.
  • Potenzielle Risiken – der «Looping Effect»:
    Ein zentrales Risiko der Popularisierung von DIS auf Social Media ist der sogenannte Looping Effect. Damit wird beschrieben, wie Fehlinformationen aus sozialen Medien zunehmend in den klinischen Diskurs und die Diagnosestellung einfliessen. Wenn eine grosse Anzahl an Betroffenen sich selbst mit DIS diagnostiziert und dieses Verständnis online weiterverbreitet, kann dies nicht nur die öffentliche Wahrnehmung, sondern auch die klinische Praxis beeinflussen. Psychotherapeut:innen könnten dadurch unter Druck geraten, unkritisch Selbstdiagnosen zu übernehmen oder die tatsächliche Komplexität von DIS aus dem Blick zu verlieren.
  • Behandlungsempfehlungen: Ein sorgfältiger diagnostischer Prozess ist essenziell. Standardisierte Diagnosetools wie das Strukturierte Klinische Interview für dissoziative Symptome (SKID-D) und andere strukturierte Interviews helfen, zwischen echtem DIS und anderen Störungen wie Borderline-Persönlichkeitsstörung oder funktionellen Störungen zu unterscheiden oder Komorbiditäten zu diagnostizieren.
  • Fehlender Zugang zu spezialisierten Behandlungen:
    Eine präzise Diagnostik und Behandlung von DIS kann zu einer deutlichen Verbesserung der psychischen und physischen Gesundheit, der interpersonellen Sicherheit und der Lebensqualität führen. Zudem wird die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens verringert. Dennoch bleibt der Zugang zu spezialisierten Behandlungen für viele Betroffene eingeschränkt. Dies liegt unter anderem am Mangel an Fachpersonen mit Expertise in Dissoziation sowie an professioneller Skepsis und Unglauben gegenüber der Störung. Sensationalistische Darstellungen von DIS in den Medien, die nicht durch eine fundierte Ausbildung in komplexer Traumafolgethematik und Dissoziation ausgeglichen werden, tragen massgeblich zu dieser Skepsis bei.

Fazit:

Die zunehmende Selbstdiagnose von DIS durch Social Media stellt Psychotherapeut:innen vor neue Herausforderungen. Der Looping Effect kann dazu führen, dass Fehlinformationen aus Social Media in die professionelle Diagnostik und Therapie einfliessen, wodurch die Unterscheidung zwischen realen Fällen, immitiertem Verhalten und anderen psychischen Erkrankungen erschwert wird. Eine evidenzbasierte Diagnostik sowie der Ausbau von Fachwissen zu komplexen Traumafolgestörungen und Dissoziation sind daher essenziell, um Betroffenen den Zugang zu wirksamer Behandlung zu ermöglichen.

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Siehe auch Dr. Jan Gysis Newsletter-Update vom 31.10.2024

Herausforderungen für Fachkräfte: DIS und soziale Medien

Binet, E. (2024).

Claims of Dissociative Identity Disorder on the Internet: a new epidemic of Munchausen Syndrome?.

European Journal of Trauma & Dissociation, 100470.

https://doi.org/10.1016/j.ejtd.2024.100470

Immer mehr Menschen suchen Gesundheitsinformationen online, vor allem in sozialen Medien. Leider ist die Qualität dort oft fragwürdig, was sowohl Laien als auch Fachkräfte betrifft.

Besonders problematisch ist die Selbstdiagnose von dissoziativer Identitätsstörung (DIS) über das Internet. Soziale Medien beeinflussen kulturelle Meinungen und die Skepsis von Fachkräften gegenüber dieser Diagnose.

DIS ist in den internationalen Klassifikationen DSM-5-TR und ICD-11 anerkannt, aber ihre Legitimität bleibt umstritten. Falschinformationen in (sozialen) Medien erschweren eine korrekte Diagnose. Fachkräfte sollten daher vorsichtig sein, wenn Patient:innen eine durch soziale Medien beeinflusste DIS-Diagnose präsentieren.

Ein oft übersehener Punkt ist laut dem Autoren die Verbindung von DIS mit dem Münchhausen-Syndrom. Diese Verbindung werde selten systematisch untersucht, obwohl sie wichtig für die Diagnose ist. Es braucht mehr Schulung in der Diagnose von Dissoziativen Störungen, um Fehldiagnosen zu vermeiden.

Es ist entscheidend, dass Therapeut:innen die Risiken der sozialen Medien bei der Verbreitung und Simulation von psychischen Störungen erkennen. Der Schutz der Betroffenen und die Aufklärung sollten im Fokus stehen

Kommentar: Dieser Artikel weist erneut auf die Risiken von Selbstdiagnosen hin, die durch Informationen aus sozialen Medien verstärkt werden. Neben Autismus, ADHS und Tourette-Syndrom sehen wir zunehmend, dass auch PTBS, kPTBS und DIS durch diese Plattformen zu falschen Selbstdiagnosen führen. Oft sind es nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch deren Partner, Freunde und Angehörige, die solche Diagnosen stellen oder übernehmen.

Für uns Fachpersonen ist es entscheidend, die Möglichkeit von Fehldiagnosen im Blick zu behalten. Im speziellen Fall der DIS gilt weiterhin:

  1. Nur Fachpersonen mit entsprechender Ausbildung sollten eine imitierte oder echte DIS diagnostizieren.
  2. Diagnosen von imitierten oder falsch-positiven DIS-Fällen sollten ausschließlich mit strukturierten Interviews wie dem SCID-D oder TADS-I erfolgen.
  3. Für Fachpersonen im psychotherapeutischen Bereich gibt es zwei wesentliche Gefahren im Zusammenhang mit der Diagnose von DIS:
  1. Informationen aus fragwürdigen Quellen, wie Hollywood-Darstellungen oder Weiterbildungen, die gesellschaftliche Gewalt und deren Folgen für Betroffene verharmlosen. Diese trivialisierten Darstellungen und Bagatellisierungen von Gewalt können zu Fehleinschätzungen und falschen Erwartungen hinsichtlich der Symptome führen.
  2. Weiterbildungsformate, die eine einseitige und unkritische Fokussierung auf DIS bieten, ohne eine fundierte und differenzierte Betrachtung der Störung zu gewährleisten. Dies kann dazu führen, dass Fachpersonen wichtige Aspekte der Differentialdiagnose übersehen und potenziell fehlerhafte Diagnosen stellen.

Es ist wichtig, dass wir als Fachleute weiterhin differenzierte und fundierte Diagnosen stellen und uns gegen die wachsende Verbreitung von Fehlinformationen auf sozialen Medien und anderen Kanälen (einschliesslich einseitigen Weiterbildungsformaten) wappnen.

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Siehe auch Dr. Jan Gysis Newsletter-Updates vom 13.4.2023

Forensische Evaluation von Dissoziation: zwischen real und imitiert unterscheiden

Scott, C. L., Salem, A. M., Tindell, W. W., Neely, H. K., & Blum, A. W.

The forensic assessment of dissociation: Distinguishing real from the unreal.

Behavioral sciences & the law

https://doi.org/10.1002/bsl.2622

Dissoziative Symptome treten bei zahlreichen Diagnosen auf und können von Menschen geltend gemacht werden, die sowohl in Straf- als auch in Zivilverfahren verwickelt sind. Zur forensischen Evaluation dissoziativer Störungen bestehen jedoch noch etliche Unklarheiten. Der vorliegende Artikel gibt eine Übersicht zur wissenschaftlichen Literatur zur Diagnostik dissoziativer Störungen in der Forensik, mit einigen konkreten Empfehlungen, zB.

  • Die Aufzeichnung der Begutachtung auf  Video, damit alle “Switches”, veränderten Darstellungen oder dargestellten dissoziativen Episoden sorgfältig überprüft werden können.
  • Fragen zum Vorwissen über DIS, PTBS oder anderen dissoziativen Symptomen, z. B. über Bücher, Internetrecherchen oder Filme über dissoziative Störungen.
  • Fragen zur Geschichte der Diagnostik dissoziativer Störungen in Therapien und früheren Gutachten
  • Sorgfältige Abwägung zwischen echten und atypischen Anzeichen für dissoziative Episoden (Brand & Brown, 2022; Kluft, 1987; Thomas, 2001).
  • Durchführung strukturierter Beurteilungen mit evidenzbasierten psychologischen Messungen (Brand et al., 2017).

PS: Siehe auch: Einschätzung der Schuldfähigkeit von Menschen mit DIS vor Gericht:

  1. Easdale (2022)

Assigning Criminal Responsibility to Defendants with Dissociative Identity Disorder

Criminal Law & Criminal Justice

Vol. 50, Issue 4, 2022

https://www.capitallawreview.org/article/55613-assigning-criminal-responsibility-to-defendants-with-dissociative-identity-disorder

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Siehe auch Dr. Jan Gysis Newsletter-Update vom 6.10.2022

Schuldunfähigkeit bei DIS, oder: DIS vor Gericht

Kabene, S. M., Neftci, N. B., & Papatzikis, E. (2022).

Dissociative Identity Disorder and the Law: Guilty or Not Guilty?

Frontiers in Psychology, 13.

https://doi.org/10.3389/fpsyg.2022.891941

Dieser Übersichtsartikel geht der Frage nach, ob bei einer Dissoziativen Identitätsstörung die Schuldfähigkeit eingeschränkt sein oder fehlen kann. Der Artikel ist insofern interessant, weil er Gerichtsurteile in den USA zusammenfasst, wo beim Beschuldigten eine DIS vermutet oder diagnostiziert wurde. Leider enthält der Artikel etliche fachliche Mängel bezüglich fachlich korrekter Diagnostik der DIS und der imitierten DIS (siehe unten), sowie zu spezifischen Überlegungen, die in Bezug auf die Abklärung der Schuldfähigkeit bei DIS sinnvoll sind.

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Siehe auch Dr. Jan Gysis Newsletter-Update vom 3.10.2022:

Der Fall Dominic Ongwen oder: DIS vor Gericht, und was bedeutet es, wenn Opfer zu Tätern werden?

Chifflet, P., & Freckelton, I. (2022).

The Mental Incapacity Defence in International Criminal Law: Ramifications from the Ongwen Trial Judgment.

International Criminal Law Review, 22(4), 751-779.

https://brill.com/view/journals/icla/22/4/article-p751_005.xml

Dominic Ongwen ist ein ugandischer ehemaliger Kindersoldat, Kriegsverbrecher und früherer Anführer der Lord’s Resistance Army (LRA), einer in Norduganda operierenden Terrororganisation. Er wurde am 4. Februar 2021 vom Internationalen Strafgerichtshof schuldig gesprochen. Am 6. Mai 2021 wurde er zu einer Gefängnisstrafe von 25 Jahren verurteilt  (Siehe dazu Wikipedia)

Als Erwachsener war er Täter vieler schwerer Kriegsverbrechen mit Morden, Vergewaltigungen, Entführungen u.v.m.. In seiner Kindheit wurde Ongwen jedoch selber zuerst Opfer schwerer Gewalt. Mit 9 Jahren wurde er auf dem Weg zur Schule in Norduganda von der LRA entführt, in deren Reihen er den Rest seiner Kindheit verbrachte. Seine Eltern wurden offenbar einige Jahre nach seiner Entführung brutal ermordet. Von der LRA wurde er einerseits schwerer Gewalt ausgesetzt, andererseits auch zum Ausüben von Gewalt gezwungen, bis er selber begann, Gewalt anzuwenden, um der Gewalt gegen ihn zu entkommen.

Ongwens Rechtsvertreter machten im Verfahren geltend, dass er an einer Reihe von psychischen Störungen litt, die seine Fähigkeit beeinträchtigten, um die Folgen seines Verhaltens zu erkennen. Die Verteidigung führte aus, dass bei Ongwen eine schwere depressive Erkrankung, eine PTBS, dissoziative Störungen (einschliesslich Depersonalisation, dissoziative Amnesie und DIS), schwere Selbstmordgedanken und Zwangsstörungen diagnostiziert wurden. Die kombinierte Wirkung dieser Störungen soll Ongwen unfähig gemacht haben, die Art seines Verhaltens zu erkennen oder es zum fraglichen Zeitpunkt zu kontrollieren. Konkret argumentierte die Verteidigung, dass die Verbrechen von Ongwens anderer Persönlichkeit (“Dominic B”) in dissoziativen Umständen begangen wurden, in denen Ongwen keine Kontrolle über sein Verhalten hatte. Ongwen wurde auch als “kindlicher” Geist beschrieben, der nicht in der Lage sei, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden.

Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der gemeinsame Rechtsvertreter der Opfer machten geltend, dass die Beweise nicht belegten, dass Ongwen im relevanten Sinne geistig unzurechnungsfähig war.

Kommentar: Der Fall lädt in verschiedener Hinsicht zum Nachdenken ein. Allgemein: Inwiefern ist Ongwen nun Opfer oder Täter? Wie sollte juristisch vorgegangen werden, wenn jemand sowohl Opfer als auch Täter ist? Und im Besonderen mit Bezug auf eine DIS: Welche Bedeutung hat eine DIS auf die Fähigkeit von Betroffenen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden? Wie steht es um die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit in welchen Zuständen und zwischen den Zuständen? In welchen Zuständen haben Betroffene noch in welchem Ausmass die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln? Welche Verantwortung trägt ein Alltagsanteil für Straftaten in dissoziierten Zuständen? Welcher Grad an Kontrollfähigkeit wird Betroffenen zum Tatzeitpunkt, aber auch in der Zeit zuvor, zugemutet? Wie sollte eine DIS forensisch abgeklärt werden? Und wie sollte vorgegangen werden, um eine imitierte DIS zu erkennen, mit der eine Strafverminderung oder -befreiung erschwindelt werden soll?

Im Bereich von Forensik, Justiz & DIS gibt es viele offene Fragen. Der vorliegende Artikel ist interessant im Hinblick auf Überlegungen zur Schuldfähigkeit resp. Unzurechnungsfähigkeit bei DIS. Bedenklich fand ich die fehlende Transparenz im Fall Ongwen bezüglich Diagnostik  – wurde die Diagnostik überhaupt gemäss Leitlinien gemacht, und falls ja mit welchen Fragebögen? Hier stellt sich auch die Frage, ob die DIS-Diagnose gestellt wurde, um eine Strafverminderung zu erreichen. Dafür könnte sprechen, dass der konkrete Zusammenhang zwischen DIS-Zuständen und Schuldfähigkeit offenbar nicht sorgfältig ausgearbeitet wurde.

 

Vielleicht werden wir in Zukunft mehr Fälle sehen, wo bei Beschuldigten eine DIS diagnostiziert und als Argument im Sinne der Verteidigung eingesetzt wird. Gerade hier sind kompetente und sorgfältige diagnostische Abklärungen gemäss Leitlinien, durchgeführt von Fachleuten mit entsprechender Kompetenz und Erfahrung, besonders relevant. Gefordert ist im weiteren die Justiz in der Einschätzung der Schuldfähigkeit bei Straftaten von Menschen mit DIS. Interdisziplinäre Zusammenarbeit könnte hier besonders wichtig sein, da gerade bei der DIS viele Vorurteile und Wissenslücken bestehen.

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Dr. Jan Gysis Newsletter-Update vom 30.6.2021

Warnhinweise auf falsche und imitierte dissoziative Identitätsstörung

Pietkiewicz, I. J., Bańbura-Nowak, A., Tomalski, R., & Boon, S. (2021).

Revisiting false-positive and imitated dissociative identity disorder.

Frontiers in Psychology, 12.

https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.637929

Zur Diagnostik der dissoziativen Identitätsstörung gehört die Abklärung, ob PatientInnen in der Vorgeschichte eine falsche DIS -Diagnose erhalten haben oder ob sie eine DIS imitieren (siehe zB Diagnostik-Buch S. 167ff). Dies betrifft aber nur die Diagnostik von Menschen, die von sich selbst überzeugt sind, an einer DIS zu leiden.

Gerade wenn Menschen voller Überzeugung von sich sagen, an einer DIS zu leiden, sollten wir skeptisch reagieren. Zu den typischen Zeichen von Menschen mit DIS gehört, dass sie selber immer wieder an der Diagnose zweifeln (durchgehend oder intermittierend, siehe zB. Diagnostik-Buch S. 147), weshalb das Fehlen von Zweifeln ein Warnhinweis sein kann. Auch bei Menschen mit DIS in jahrelanger Therapie und deutlichen DIS-Symptomen erlebe ich immer wieder kürzere oder längere Phasen mit Zweifeln an der Diagnose.

In dieser polnischen Untersuchung konnte bei 6 von 86 Menschen eine DIS nicht bestätigt werden. Folgende Warnhinweise auf eine falsch-positive oder imitierte DIS wurden gefunden:

  1. Erwartung einer direkten oder indirekten Bestätigung einer selbst diagnostizierten DIS
  2. DIS, die zuvor von jemandem (Freund, Psychologe und Arzt) ohne gründliche klinische Beurteilung diagnostiziert wurde.
  3. Betroffene/r hat sich mit der DIS-Diagnose beschäftigt und sich mit den Symptomen vertraut gemacht: Bücher gelesen, Videos angesehen, mit anderen PatientInnen gesprochen, an einer Selbsthilfegruppe für dissoziative PatientInnen teilgenommen.
  4. Verwendet klinischen Fachjargon: Teile, Alter, Dissoziieren, Switch, Depersonalisation, etc.
  5. Zeigt wenig Vermeidungsverhalten: spricht eifrig über schmerzhafte Erfahrungen und Dissoziation, keine Anzeichen für echte Scham oder innere Konflikte im Zusammenhang mit der Offenlegung von Symptomen oder Anteilen.
  6. Rechtfertigt bereitwillig den Verlust der Kontrolle über Emotionen und inakzeptables oder beschämendes Verhalten damit, nicht man selbst zu sein oder von einer anderen Persönlichkeit beeinflusst zu werden.
  7. Keine Hinweise auf Intrusionen mit unerwünschten und vermiedenen traumatischen Erinnerungen oder deren Wiedererleben in der Gegenwart.
  8. Verneinen von ich-dystonen Gedanken oder Stimmen, vor allem beginnend in der frühen Kindheit und mit dem Vorliegen von kindlichen Stimmen. Hinweis: Dissoziative PatientInnen haben möglicherweise Angst, schämen sich oder haben das Gefühl, dass es verboten ist, über die Stimmen zu sprechen.
  9. Kein Hinweis auf Amnesie für neutrale oder angenehme Alltagsaktivitäten, z.B. Arbeiten, Einkaufen, soziale Kontakte, Spielen mit Kindern.
  10. Versucht, das Interview zu kontrollieren und Beweise dafür zu liefern, an einer DIS zu leiden, z.B. eifriges Berichten über dissoziative Symptome, ohne danach gefragt zu werden.
  11. Kündigt einen Wechsel zwischen Persönlichkeiten während der klinischen Untersuchung an und führt ihn durch, besonders bevor eine gute Beziehung zum/r TherapeutIn mit ausreichend Vertrauen aufgebaut wurde.
  12. Findet offensichtliche Vorteile, die damit verbunden sind, eine DIS zu haben: erhält besondere Aufmerksamkeit von Familie und FreundInnen, mit denen Symptome und Persönlichkeiten eifrig diskutiert werden, betreibt Selbsthilfegruppen, Blogs oder Videokanäle für Menschen mit dissoziativen Störungen.
  13. Ist verärgert oder enttäuscht, wenn die DIS nicht bestätigt wird, fordert z. B. eine erneute Bewertung, entschuldigt sich dafür, nicht ausreichend genau gewesen zu sein, um richtige Antworten zu geben, und möchte mehr Beweise liefern.

Dr. Jan Gysis Empfehlung:

Ich empfehle die Studie allen KollegInnen, die regelmässig diagnostische Abklärungen zu partieller DIS und DIS durchführen. Die Diagnose einer falsch-positiven oder einer imitierten DIS sollte dabei meines Erachtens nur durch ausreichend erfahrende KlinikerInnen erfolgen, oder supervisorisch mit einem/r ExpertIn nachbesprochen werden. Und zu erwähnen ist zudem, dass der Ausschluss einer DIS meistens viel Zeit braucht, da in der Regel lange eine erhebliche Unsicherheit besteht.

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Siehe auch Dr. Jan Gysis Newsletter-Update vom 22.1.2021:

Die Frau mit DIS, die das Haus ihrer früheren Therapeutin angezündet (und niedergebrannt) hat

und wie komplex die strafrechtliche Begutachtung von Menschen mit DIS sein kann

Loewenstein, R.J.: Firebug! Dissociative Identity Disorder? Malingering? Or …? An Intensive Case Study of an Arsonist.

Psychol. Inj. and Law 13, 187–224 (2020).

https://doi.org/10.1007/s12207-020-09377-8

In einem ausführlichen Artikel beschreibt Richard Loewenstein die Begutachtung einer Frau mit DIS, die in volldissoziiertem Zustand das Haus ihrer früheren Therapeutin angezündet hat. Nebenbei gibt er noch einen Überblick über Literatur zu DIS allgemein und zu DIS im forensischen Kontext.

Dr. Jan Gysis Fazit: Beim Lesen habe ich mir mehrfach gewünscht, der Autor hätte sich etwas kürzer gefasst, aber es ist möglich, die Geschichte der Betroffenen zu lesen und bei den theoretischen Abhandlungen zu überspringen. Zugleich ist der Artikel aber eine willkommene Sammlung von englischsprachigen Literaturhinweisen u.a. zu strafrechtlichen Gutachten bei DIS. Insgesamt sehr spannend, wenn man eine gute Tasse starken Kaffee hat, das Wetter kalt und nass ist, und man sich für strafrechtliche Fragen zu DIS interessiert (und als Eigenwerbung: etwas kürzer formuliert in Buch von Dr. Jan Gysi: Diagnostik von Traumafolgestörungen, S. 170f).