Ursula Enders reflektiert 30 Jahre Arbeit gegen Sexualisierte Gewalt gegen Kinder
Am 24.6.2019 hat Ursula Enders, Leiterin von Zartbitter e.V. Köln, eine Stellungnahme zur Expertenanhörung im Landtag NRW zum Schutze von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch veröffentlicht, die Sie hier nachlesen können. Darin berichtet sie auch von ihrem Wissen über Rituelle Gewalt und z.B. über die Lehren, die aus dem Fall Lügde zu ziehen sind.
Rituelle Gewalt
Ab Seite 7 ihrer Stellungnahme beschreibt Frau Enders, wie sie in den 1990er Jahren mit organisierter und ritueller Ausbeutung von Kindern in Kontakt kam, und erwähnt insbesondere Tatorte an der holländischen Grenze und in Ostwestfalen-Lippe (Raum Bielefeld – Detmold – Herford). Sie fasst Berichte von Kindern zusammen, die von kommerzieller sexueller Ausbeutung berichtet haben, von “Porno”-Produktionen und Snuff-Videos (also Videos, die die Tötung von Menschen zeigen – hierzu haben wir im Infoportal eine Chronologie mit Nachweisen angelegt). Ferner verweist Frau Enders auf ihren Artikel zu Ritueller Gewalt in ihrem Buch “Zart war ich, bitter wars”, in dem sie Details aufführte, von denen ihr persönlich berichtet wurde. Frau Enders betonte, dass keine der Informationen in diesem Artikel aus englischsprachiger Fachliteratur stammt.
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
Aus ihrer jahrzehntelangen Erfahrung heraus entwickelt Frau Enders in ihrer Stellungnahme eine Fülle an Forderungen, von denen wir einige hier exemplarisch hervorheben wollen:
- In Fällen wie Lügde ist ein sehr komplexes Vorgehen erforderlich, um Aufarbeitung, Aufklärung und Betreuung der Opfer und ihrer Familien und Freunde zu gestalten. Hier identifiziert Frau Enders viele Fehler (zu frühe Ansprache des Täters, Unkenntnis von Täterstrategien, politischer Untersuchungsausschuss statt gemeinsamer Beschluss-Initiativen im Landtag usw.). Sie fordert ein fachlich ausgebildetes und unabhängiges Kriseninterventionsteam auf Bundes- oder Landesebene, das beim Aufdecken solcher Fälle hinzugezogen werden kann. Solche Kriseninterventionsteams sind nach traumatischen Ereignissen wie Flugzeugabstürzen inzwischen üblich.
- Frau Enders stellt anschaulich, teilweise drastisch dar, wie die existierenden Beratungsstellen chronisch unterfinanziert sind und wie sie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder von neuen Kürzungswellen getroffen wurden. Insbesondere im ländlichen Bereich, wo das Spendenaufkommen geringer ist als in der Stadt, obwohl größere Flächen abzudecken sind, fehlen verlässlich finanzierte Angebote. In diesem Zusammenhang zitiert Frau Enders eine Aussage aus dem NRW-Familienministerium mit den Worten. “Wenn die Finanzlage ihres Vereins so begrenzt ist, dann muss ich leider ihre gesamte Förderung einstellen, denn Beratungsstellen, die auf eine Insolvenz zusteuern, dürfen wir nicht fördern.”
- Präventionsangebote gegen sexualisierte Gewalt gibt es viele – Prävention hat aber häufig auch eine aufdeckende Wirkung. Dafür stehen dann aber nicht genug Angebote zur Intervention zur Verfügung.
- Männliche Kinder und Jugendliche, die sexualisierte Gewalt erleben, finden deutlich zu wenig Hilfe. Die meisten Beratungsstellen richten sich ausdrücklich an Mädchen und Frauen. Das spezifische Beratungsangebote für Jungen muss ausgebaut werden, fordert Enders.
- Sexualisierte Gewalt von Kindern und Jugendlichen untereinander (Fachbegriff “Peer-Gewalt“) wird nach Frau Enders’ Darstellung fachlich unzureichend betreut. Lehrer*innen und Erzieher*innen sind dafür kaum qualifiziert, Geschwister, Freundeskreis oder Klassenkamerad*innen brauchen dringend mehr Unterstützung.
- Eltern brauchen nach der Aufdeckung sexueller Gewalt kurzfristige, krisenorientierte Betreuung und Alltagshilfe. Sie leiden unter Fantasien, die sie sich zu den Schilderungen ihrer Kinder machen, oder kämpfen mit wiederbelebten eigenen Gewalterfahrungen. Häufig stehen ihnen aber nur telefonische Angebote zur Verfügung oder sie bekommen einen Beratungstermin mit mehreren Wochen Wartezeit. Auch hier braucht es mehr Infrastruktur.
- Ärztliche Beratungsstellen sind nicht unbedingt geeignet, sexualisierte Gewalt gegen Kinder aufzudecken. Zum einen hinterlässt sexualisierte Gewalt häufig keine körperlichen Spuren, zum anderen definieren viele Betroffene sich nicht als “krank”. Es braucht andere spezialisierte Beratungsangebote mit niedrigschwelliger Ansprache.
- Die Kampagne des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmussbrauchs (UBSKM) “Schule gegen sexualisierte Gewalt” kritisiert Enders als zu wenig handlungsorientiert für die einzelnen Schulformen.
- Im Land NRW werden Fortbildungen immer noch nicht ressortübergreifend geplant, kritisiert Frau Enders. Das Schulministerium schult Lehrkräfte, das Familienministerium die Fachkräfte der Jugendhilfe. Dieses “Ressortdenken” ist kontraproduktiv, so Enders.
Des weiteren hat Ursula Enders ihr Fachreferat “Begleitung von Betroffenen(-gruppen) in der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in Institutionen” für die Aufarbeitungskommission [Link zum Web-Archiv] beim UBSKM (UKASK) auf der Zartbitter-Homepage veröffentlicht.