Paul Schäfers Verbindungen in die Politik waren breit und vielfältig. Sowohl die deutsche als auch die chilenische Politik hat ihn geschont, unterstützt, teilweise sogar gefördert oder mit ihm kooperiert. Heute (2016), 10 Jahre nach seiner Verurteilung, haben sich die Einstellungen zur Colonia Dignidad und zu Paul Schäfer geändert.
Das Auswärtige Amt – 2012 und 2016
Als 2012 das Buch “Unser geraubtes Leben” von Ulla Fröhling veröffentlicht wird, schreibt sie,
“Das Auswärtige Amt erschwert die Akteneinsicht in dieses dunkle Kapitel seiner Geschichte immer noch erheblich.” [1]
Das änderte sich 2016. Als der Kinofilm “Colonia Dignidad” mit Emma Watson und Daniel Brühl Anfang 2016 erscheint, nimmt das Auswärtige Amt, inzwischen unter Leitung von Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dies zum Anlass, den Film im Ministerium zu zeigen. In einem offiziellen Empfang gab es Gespräche mit dem Filmemacher und Überlebenden der Kolonie. Auch die politische Beteiligung Deutschlands wurde dabei thematisiert. Die Rede vom damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (inzwischen Bundespräsident, Stand 2017) ist hier dokumentiert [Link zum Web-Archiv]. [2]
Zitat aus dieser Rede von Frank-Walter Steinmeier:
“Nein, der Umgang mit der Colonia Dignidad ist kein Ruhmesblatt, auch nicht in der Geschichte des Auswärtigen Amtes. Über viele Jahre hinweg, von den sechziger bis in die achtziger Jahre, haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut – jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan. Auch später – als die Colonia Dignidad aufgelöst war und die Menschen den täglichen Quälereien nicht mehr ausgesetzt waren – hat das Amt die notwendige Entschlossenheit und Transparenz vermissen lassen, seine Verantwortung zu identifizieren und daraus Lehren zu ziehen. […]
Das Auswärtige Amt ist nicht daran schuld, dass es in Chile einen Militärputsch und 17 Jahre Militärdiktatur gab. Es trägt auch keine Verantwortung für das Unwesen, das Paul Schäfer und seine Spießgesellen trieben, teilweise in Verbindung mit den Militärs und Diktatoren. Aber das Amt hätte entschiedener ‘Deutschen nach pflichtgemäßem Ermessen Rat und Beistand’ gewähren müssen, wie es das Konsulargesetz vorsieht. Und es hätte früher versuchen können, durch diplomatischen Druck die Spielräume der Colonia-Führung zu verengen und juristische Schritte zu erzwingen. Die Botschaft hat es zu lange versäumt, darauf zu beharren, dass deutsche Staatsangehörige – und das waren die Bewohner der Colonia Dignidad ja ganz überwiegend – frei mit Konsularbeamten reden können. Im Spannungsfeld zwischen dem Interesse an guten Beziehungen zum Gastland und dem Interesse an der Wahrung von Menschenrechten ging Amt und Botschaft offenbar die Orientierung verloren.” [2]
Ähnlich äußerte sich im Sommer 2016 auch der damalige Bundespräsident Joachim Gauck während eines Besuchs in Chile:
“Was die deusche Regierung sicher nicht tun wird, das ist, irgendwelche Wiedergutmachungsansprüche zu akzeptieren, denn die deutsche Regierung hat nicht in Chile die Diktatur gebaut und daran mitgewirkt. Was wir betrauern und bedauern, ist, dass deutsche Diplomaten […] Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen nicht ernst genug genommen haben.” [3]
Einzelgespräche mit Bewohner/innen aus der Colonia Dignidad hatte Gauck bei seinem Chile-Besuch abgelehnt. Für einen Eklat sorgte daraufhin, dass er bei einem offiziellen Empfang in der deutschen Botschaft vor Ort mit einem der verurteilten Täter zusammentraf. [4]
Frank-Walter Steinmeier hat Anfang 2016 Akten aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes für Forschung und Aufarbeitung zur Colonia Dignidad vor der üblichen Zeit frei gegeben.
“Die gesetzliche Schutzfrist für die Öffnung der Akten des Politischen Archivs beträgt 30 Jahre, Akten bis 1985 sind also bereits zugänglich. Ich habe entschieden, diese Schutzfrist um zehn Jahre zu verkürzen. Damit machen wir die Akten der Jahre 1986 bis 1996 für Wissenschaftler und Medien zugänglich.” [2]
Seit Sommer 2016 sind mehrere Online- und Zeitschriften-Artikel erschienen, in denen Details aus diesen Akten journalistisch herausgearbeitet wurden.
Rückblick: Die deutsche Diplomatie ab 1966
In Deutschland waren Schäfers pädokriminelle Folterungen spätestens seit 1966 bekannt, als aus der Colonia Dignidad geflüchtete Menschen in der deutschen Botschaft in Santiago de Chile von den Zuständen in der Kolonie berichteten. [5] Aber das politische Klima des Kalten Krieges sorgte dafür, dass die deutschen Beziehungen zu Chile nicht gefährdet werden sollten, so dass niemand eingriff (mehr zu dieser Entwicklung unter “Warum werden die Täter/innen selten gefasst und verurteilt?”).
Anstatt die Zeugen zu schützen, ermöglichte die deutsche Botschaft nach Recherchen des “Stern” immer wieder ihre Rückführung in die Colonia Dignidad. Politische und journalistische Anfragen wurden von der deutschen Botschaft wiederholt beschwichtigend beantwortet. Angehörige von Sektenmitglieder gaben wiederholt Briefe und Hilfegesuche aus Chile beim Auswärtigen Amt in Bonn ab, hören aber nie etwas darüber, ob und wie das Amt tätig wurde.
1985 flüchten hochrangige Sektenmitglieder aus der Colonia Dignidad – in die kanadische Botschaft, weil sie den deutschen Diplomaten nicht trauen. [6] Laut dem “Stern” übergibt das Auswärtige Amt die Berichte an die Staatsanwaltschaft, behandelt die Berichte behördenintern aber als Geheimsache. Norbert Blüm und Heiner Geißler kritisieren die Colonia Dignidad öffentlich. Weiter geschieht nichts. [5]
1977 und 1987 veröffentlichen die Zeitschrift “Stern” und “amnesty international” Vorwürfe gegen Paul Schäfers Gewaltherrschaft in der Colonia Dignidad. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher bestellt daraufhin seinen Botschafter aus Chile ins Ministerium ein, veranstaltet Krisensitzungen und soll laut Stern “getobt” haben. Genscher wird zitiert mit den Worten “Wir nehmen diese Vorwürfe sehr ernst”. Eine deutsche Untersuchungskommission wird nach Chile geschickt, aber die 300 deutschen Sektenmitglieder stimmen angeblich einstimmig ab, den Besuch nicht in die Colonia Dignidad hinein zu lassen. Die Delegation fliegt wieder nach Deutschland zurück. [5]
Die lange Untätigkeit bestätigte auch die Bundesregierung unter Angela Merkel 2016 offiziell in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Linken.
“Aus drei Sachakten des Bundesnachrichtendienstes, deren Inhalte sich teilweise auf die „Colonia Dignidad“ beziehen, geht hervor, dass der Bundesnachrichtendienst Kenntnis von einer Mitteilung in der chilenische Presse hatte, die die „Colonia Dignidad“ im Jahre 1966 und unter anderem dortige „KZ-ähnliche Methoden“ erwähnt.” [7]
Erst ab 1987 aber sei das Auswärtige Amt diesen Vorwürfen nachgegangen. [8]
Der “Stern” berichtete ebenfalls 1987 darüber, dass der damalige deutsche Botschafter in Santiago und seine Frau sich in der Kolonie bewirten ließen. Außerdem hätten Sektenmitglieder auf Staatskosten den Dienstwagen des Botschafters repariert und lackiert oder für ihn Dachreparaturen durchgeführt. Botschaftsangehörige würden in der Kolonie ihren Urlaub verbringen. [9]
Die chilenische Regierung
Von 1970 bis 1973 regiert der Sozialist Salvador Allende in Chile. Da die Colonia Dignidad inzwischen zu einer Wirtschaftsmacht in Chile geworden war und viel für die Infrastruktur und Erschließung des Landes getan hatte, tastete er die Kolonie nicht an. Schäfer hingegen hatte seine Anhänger/innen beten lassen, dass Allende die Wahlen 1970 verliert, weil er Enteignungen fürchtete. [10] Während Allendes Regierung waren bereits Führer der faschistischen Terror-Organisation “Patira y Liberdad” in der Colonia Dignidad untergetaucht, berichtete der “Stern” später. [9]
Nach dem Militärputsch von Augusto Pinochet 1973 wurden auch politische Regime-Gegner in Chile in der Colonia Dignidad gefoltert. Bis 1990, als Pinochet als Präsident abgewählt wurde, unterhielt Schäfer einen guten Kontakt zu ihm. Pinochet und seine Gattin waren gern gesehene Gäste in der Colonia Dignidad.
Der chilenische Geheimdienst
Auch der chilenische Geheimdienstchef Manuel Contreras und seine Frau ließen sich in der Colonia Dignidad bewirten, berichtete der “Stern” schon 1987. [9] Contreras wurde für tausendfachen Mord verantwortlich gemacht. Sektenmitglieder bestätigten seine Besuche in der Kolonie. Und ehemalige Geheimdienstmitarbeiter sagten übereinstimmend mit politischen Häftlingen und Überlebenden aus, dass auf dem Gelände der Kolonie nach dem Putsch ein geheimes Folterzentrum des chilenischen Geheimdienstes DINA gewesen sei. [9], [1], [2], [11] Im Gegenzug haben Geheimdienst-Mitarbeiter einzelne Sektenmitglieder zu einem “Sicherheitstrupp” ausgebildet, der die Bewohner der Colonia Dignidad an der Flucht hindern und bewachen sollte. [12]
Die Colonia Dignidad war in Deutschland ab 1973 gemeinnützig. Das bedeutete z.B. Vorteile im Im- und Export: Lieferungen an die Colonia Dignidad wurden vom Zoll teilweise nicht mehr kontrolliert. So unterlief die Kolonie z.B. das UN-Waffenembargo gegen Chile, indem sie sich Waffen liefern ließ, die sie an die Pinochet-Regierung weiter gab. [13]
Die besondere Unterstützung durch die CSU
Politische Unterstützung erhielt Paul Schäfer auch von Deutschland aus. Insbesondere der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß und sein Umfeld galten als “Gönner und Beschützer” Paul Schäfers. [14] Nach einem Chile-Besuch formiert sich sogar ein offizieller deutscher “Freundeskreis” – Organisator war laut Stern ein bekannter deutscher Waffenhändler. Auch ein bekannter ZDF-Moderator verteidigte Schäfer öffentlich gegen Vorwürfe. An der Würzburger Universität bildete sich eine Unterstützergruppe für die Colonia Dignidad, die mehrfach Reisen nach Chile unternahm. Zwei Würzburger Gelehrte arbeiteten auch offiziell an der neuen chilenischen Verfassung mit. [14]
Der Rentenskandal, die Menschenrechte, Norbert Blüm und Heiner Geißler 1987
Die CDU-Politiker Norbert Blüm und Heiner Geißler hingegen benannten ab Mitte der 1980er Jahre die Menschenrechtsverletzungen in Chile. [14] 1987 zum Beispiel sprach Blüm die Menschenrechtsfragen bei einem offiziellen Besuch in Chile an und sorgte 1988/89 als Arbeitsminister dafür, dass deutsche Rentenzahlungen für in der Kolonie gemeldete deutsche Rentner eingestellt wurden, weil diese wahrscheinlich längst verstorben waren (siehe die “Kleine Chronologie” unter “Urteile im Ausland”). [15] Aufgrund dieser CDU-Positionierung wurden die Stimmen der Unterstützer aus Bayern leiser und es hieß auf einmal, “weder die CSU als Partei noch die Münchner Regierung hätten die Kolonie unterstützt, sondern nur einzelne CSU-Mitglieder”. [9]
Die Regierungszeit von Gerhard Schröder, SPD (1998-2005) und danach
Die Haltung der SPD zur Colonia Dignidad wird nur selten in der Berichterstattung thematisiert. So soll sich Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002 (Paul Schäfer war zu dieser Zeit in Argentinien untergetaucht) bei einem Gipfeltreffen in Stockholm auch nach zwei Personen aus der Colonia Dignidad erkundigt haben. In dem insgesamt halbstündigen Gespräch sei es aber auch noch um Wirtschafts-, Finanz- und Militärfragen gegangen. [16]
Im Jahr 2005, als Paul Schäfer verurteilt wird, bieten das Auswärtige Amt und die deutsche Botschaft den Bewohner/innen der Colonia Dignidad Informationen und Beratung an. [17]
2008 sagen zwei Geflüchtete aus der Colonia Dignidad vor der Staatsanwaltschaft in Bonn aus – das Verfahren wird eingestellt. Im gleichen Jahr erhält ein anderer Bewohner, der sich öffentlich für die Überlebenden engagiert, das Bundesverdienstkreuz für dieses Engagement. [18]
2011 genehmigt und finanziert der deutsche Bundestag 245.000 Euro, um die Bewohner/innen in der Colonia Dignidad psychologisch zu betreuen, auszubilden und bei dem Aufbau eigener Arbeitsplätze in Chile zu unterstützen. Die Journalistin Ulla Fröhling schrieb dazu:
“Maßnahmen zur Integration von Opfern der Colonia Dignidad in die bundesdeutsche Gesellschaft sind nicht vorgesehen. Das ist ein deutliches Zeichen: “Die Opfer sollen bleiben, wo sie sind. Und mit ihnen das Problem.” [19]
Die Aussteiger/innen der Colonia Dignidad, die nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz geflüchtet sind, leben meist in Armut, weil sie hier keine Renten erhalten. Diejenigen, die in Chile geblieben sind und auf dem Gelände der Kolonie inzwischen ein Freizeit- und Tourismuszentrum betreiben, haben wenigstens ein Auskommen.
Quellen:
[1] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 11
[2] Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier am 26.4.2016 [Link zum Web-Archiv]
[3] Fernsehreportage “Die Sekte der Folterer”, ARD Erstausstrahlung 14.11.2016, bei youtube abgerufen am 6.2.2017. O-Ton bei ca. 42:18 Minuten. Wir haben minimale Fehler der wörtlichen Rede bei der Verschriftlichung korrigiert.
[4] Kurzmeldung auf Spiegel-Online unter “Personalien” vom 16.7.2016, ganz unten, “Opfer düpiert”, abgerufen am 27.2.2017
[5] Der Stern berichtete mehrfach über die Entwicklungen. Einige Artikel liegen uns im Original vor, allerdings ohne konkretes Veröffentlichungsdatum. Wir beziehen uns auf die Berichte “Helft, helft bitte, lasst mich nicht allein” (wahrscheinlich Mitte 1988), “Lokaltermin im Lager des Schreckens” (wahrscheinlich 1988 oder später) und “Ein deutscher Skandal – Das Lager des Schreckens” aus der Ausgabe 49/50 1987.
[6] Artikel auf Spiegel.de 11.7.2016, „Colonia Dignidad – Dokumente des Terrors“
[7] Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken, 28.7.2016, Bundestagsdrucksache 18/9261, Antwort auf Frage 30
[8] Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken, 28.7.2016, Bundestagsdrucksache 18/9261, Antwort auf Frage 2
[9] Zeitschriftenartikel “Stern” Ausgabe 49/50 1987, “Ein deutscher Skandal Teil II – Das Lager des Schreckens”, S. 208
[10] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 211
[11] Interviews mit einem Überlebenden der DINA-Folter gibt es in der Fernsehreportage “Die Sekte der Folterer”, ARD Erstausstrahlung 14.11.2016, ca. ab Minute 19:00, bei youtube abgerufen am 6.2.2017.
[12] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 244
[13] Online-Artikel auf www.spiegel.de vom 24.2.2016, “Da muss ein Museum rein oder der Bulldozer”, Fotostrecke, Bild 13 [Link zum Web-Archiv]
[14] Zeitschriftenartikel “Stern” Ausgabe 49/50 1987, “Ein deutscher Skandal Teil II – Das Lager des Schreckens”, S. 206f.
[15] Fernsehreportage “Die Sekte der Folterer”, ARD Erstausstrahlung 14.11.2016, ca. ab Minute 32:00, bei youtube abgerufen am 6.2.2017.
[16] Bericht aus der Zeitung El Sur 24.2.2002, zitiert nach der Webseite der AGPF – Aktion für Geistige und Psychische Freiheit – Bundesverband Sekten- und Psychomarktberatung e.V.
[17] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 268
[18] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 272 und 298
[19] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 292, kursive Hervorhebung aus dem Buch-Text übernommen.