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- Warum werden die Täter/innen selten gefasst oder verurteilt?
- Sind Menschen bei Ritueller Gewalt getötet worden?
- Sind Kinder an Ritueller Gewalt beteiligt?
- Sind Kinder bei Ritueller Gewalt gestorben?
- Woher kommen diese Kinder?
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FAQ – Häufig gestellte Fragen
Wie häufig kommt Rituelle Gewalt vor?
Es gibt bislang keine wissenschaftliche Untersuchung oder polizeiliche Statistik, die diese Frage zufriedenstellend beantwortet. Es gibt nur Schätzungen oder Näherungswerte. Eine Auswahl stellen wir Ihnen hier zusammen:
- Am 3. April 2019 legte die Aufarbeitungskommission beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) einen Bilanzbericht 2019 vor, den Sie hier herunterladen können. Von 914 Berichten, die die Aufarbeitungskommission ausgewertet hat, berichten 42 Betroffene (darunter 3 Männer, Bericht S. 130) von organisierten rituellen Strukturen, und zwar in 28 Anhörungen und 14 Berichten. Insgesamt lagen der Kommission 117 Anhörungen und Berichte aus dem Kontext organisierter Gewalt vor. Der Kontext “organisierte rituelle Strukturen” ist davon eine Unterform. Ausdrücklich werden satanistische oder faschistische Ideologien als Beispiel genannt. Zusätzlich wurden in den 914 Anhörungen als Institutionen 49 Mal die katholische Kirche (21 %), 31 Mal die evangelische Kirche (13 %) und 7 Mal andere Religionsgemeinschaften (3 %) genannt. Mehrfachnennungen waren möglich (Bericht S. 36).
- Im April 2018 wird auf einer Tagung im Bundesfamilienministerium in Berlin eine Broschüre “Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen – Empfehlungen an Politik und Gesellschaft” veröffentlicht. (Link zum Download) Dort wird verwiesen auf ein Forschungsprojekt im Rahmen der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, das zwei Online-Studien durchgeführt hat. Zitat (S. 20): “Bei beiden Online-Studien konnten jeweils die Angaben von 165 Betroffenen und 176 Behandler_innen … ausgewertet werden. Alle Studienteilnehmer_innen geben Erfahrungen mit organisierter und/oder ritueller Gewalt an. 95,5 % der Betroffenen und 90,3 % der Behandler_innen sind weiblich.”
- Von Mai 2013 bis 15.1.2018 haben 476 Antragsteller.innen beim Ergänzenden Hilfesystem Fonds Sexueller Missbrauch in ihren Anträgen “Ritueller/sektenmäßiger Missbrauch” angegeben. (Quelle: Empfehlungen des Fachkreises beim BMFSFJ (siehe oben), Seite 4)
- 2017 wurden erste Ergebnisse einer qualitativen internationalen Befragung von “Protect Children”, Kanada, und “Innocence in Danger”, Deutschland, veröffentlicht. Befragt wurden Menschen, deren Missbrauchsbilder im Internet verbreitet wurden. Ergebnisse: Mindestens 74 Befragte (fast 50%) waren Betroffene organisierter sexueller Gewalt (Missbrauch, bei dem Kinder von mehreren Straftätern sexuell missbraucht werden). 58% der Befragten gaben an, von mehr als einer Person missbraucht worden zu sein. 82% der primären Straftäter*innen, die an Szenarien mit mehreren Täter*innen beteiligt waren, waren Eltern oder Familienangehörige des Kindes. 56% der Betroffenen gaben an, dass der Missbrauch vor dem vierten Lebensjahr begann. 87% waren 11 Jahre oder jünger. 42% wurden mehr als 10 Jahre lang missbraucht. 67% der Betroffenen wurde physisch gedroht, unter anderem wurde ihnen gesagt, dass sie sterben oder getötet würden. (Quelle auf Englisch (Protect Children) [Link zum Web-Archiv] und auf Deutsch (Innocence in Danger) [Link zum Web-Archiv]).
- 2010: Die Bielefelder Traumaspezialistin Roswitha Ewald arbeitet in der Klinik für Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin des Evangelischen Krankenhauses in Bielefeld. (Inoffiziell heißt diese Klinik häufig “Reddemann-Klinik”, weil sie viele Jahre von der Fachärztin für Nervenheilkunde und Psychosomatische Medizin, Prof. Dr. Luise Reddemann [Link zum Web-Archiv], geleitet wurde.) Frau Dr. Ewald erklärte der Redaktion von evangelisch.de [Link zum Web-Archiv] im Sommer 2010, etwa bei 5-10 % ihrer rund 400 Patient/innen im Jahr spiele Rituelle Gewalt eine Rolle.
- 2007: An der Online-Befragung “Extreme Abuse Survey” beteiligten sich weltweit 2000 Menschen, davon 273 aus Deutschland. Viele erklärten, Dinge erlebt zu haben, die aus Ritueller Gewalt und Mind-Control berichtet werden. Leider wurden die Fallzahlen nicht länderspezifisch ausgewertet. Die sehr differenzierten Ergebnisse gibt es hier.
- 2007/2005: Zwei Therapeut/innen-Befragungen aus NRW (2005) und Rheinland-Pfalz (2007) ergeben, dass jede/r 10. Therapeut/in Klient/innen behandelt, die von Ritueller Gewalt berichten. In absoluten Zahlen heißt das: In NRW wurden 119 Fälle berichtet, in Rheinland-Pfalz 67 Fälle, dabei wurden 23 Tötungsdelikte gemeldet. Die Taten lagen oft viele Jahre zurück. Bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass diese Bundesländer besondere Schwerpunkte für entsprechende Verbrechen sind.
- 1997 führte die ISSD eine Pilotstudie durch – Details dazu hier. Demnach wurden aus NRW, Hessen, Niedersachsen, Baden-Württemberg, Bayern, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Berlin, Hamburg und vereinzelt aus anderen Bundesländern insgesamt 237 Fälle von Satanistischem Rituellem Missbrauch gemeldet und die Opfer waren zu knapp 85 % weiblich. Gemeldet wurden insgesamt 152 destruktive Kulte, 126 Fälle von „Kinderpornografie“ und „Kinderprostitution“ (damals waren diese Begriffe noch politisch korrekt), 57 Meldungen erhielten sie zu Sekten und 34 Meldungen zu faschistischen Gruppierungen. Mehrfachnennungen waren möglich.
- 1995 schrieb Michaela Huber in ihrem Buch “Multiple Persönlichkeiten”: “Zur Verbreitung Multipler Persönlichkeitsstörung in der Allgemeinbevölkerung sowie unter Psychiatrie-PatientInnen gibt es bislang nur wenige epidemiologische Studien aus Nordamerika. Sie zeigen: Vermutlich haben – wenn sich die Ergebnisse auf westeuropäische Verhältnisse übertragen lassen – rund 10 % der Bevölkerung eine dissoziative Störung, etwa 1 % könnte eine Multiple Persönlichkeitsstörung haben.” (Quellenangabe von Huber: Ross, C. A.: Epidemiology of multiple personality disorder and dissociation, in: Psychiatric Clinics of North America, Vol 14 (3), 1991, S. 503-517). Huber schreibt weiter: “Bei ambulanten und stationären Psychiatrie-PatientInnen scheint die Rate weitaus höher zu liegen, nämlich zwischen 5 und 15 %.” (Quellenangabe von Huber: Bliss E. L., Jeppsen, E. A.: Prevalence of multiple personality among inpatients and outpatients, in: American Journal of Psychiatry, Vol 145 (2), 1985, S. 250-251; Ross, C.A., et al: The frequency of multiple personality disorder among psychiatric impatients, in: American Journal of Psychiatry, Vol 148 (12), 1991, S. 1717-1720; Ross, C. A., et al: Dissociative experiences among psychiatric inpatients, in: General Hospital Psychiatry, Vol 14 (5), 1992, S. 350-354) Bei dieser vielzitierten Zahl von ca. 1 % DIS-Patient.innen in der Allgemeinbevölkerung ist natürlich zu berücksichtigen, dass Rituelle Gewalt nicht die einzige Ursache für eine Dissoziative Identitätsstruktur ist.
- Von 1994 bis 1997 gab es die Selbsthilfezeitung “Matrioschka” von und für Menschen mit Dissoziativer Identitätsstruktur (DIS, damals MPS). Ursache dafür ist häufig Rituelle Gewalt. Im November 1996 schrieb die Herausgeberin, dass die gesamte Adressenliste der “Matrioschka” 550 Adressen umfasst. Darunter waren nicht nur Betroffene, sondern auch Beratungsstellen, Therapie-Praxen und Begleitpersonen von Betroffenen. Wenn man davon ausgeht, dass in solchen Einrichtungen mehrere Menschen mit DIS betreut wurden, liegt die Zahl der Leser.innen im deutschsprachigen Raum vermutlich also deutlich höher. (Quelle: Matrioschka Nr. 15 , November 1996)
Wie geht das Infoportal mit Namen von Täter/innen und Opfern um?
Wir versuchen auf dieser Internetseite einen Spagat: Einerseits möchten wir gerne reale Namen oder vollständige Klarnamen von Menschen vermeiden, weil sie entweder als Täter/innen bestraft wurden oder Opfer von Taten waren, und sie damit – nicht zuletzt gemäß Pressekodex Ziffer 8 [Link zum Web-Archiv] – einen besonderen Schutz verdienen. Gleichzeitig wollen wir aber Fälle dokumentieren und unsere Recherchen transparent machen, und dazu gehört z.B., dass bestimmte Fälle und Namen bei uns auch über die Suche zu finden sind oder dass Querverbindungen zwischen Fällen gezogen werden können. Deshalb haben wir folgende Entscheidungen getroffen:
Wir nennen Namen nur dann, …
- … wenn die Person als “Person der Zeitgeschichte” eingeordnet werden kann, weil der Fall, in dem sie auftaucht, sehr bekannt und mit ihrem Namen verknüpft wurde. Wir fänden es albern, von “Marc D. aus Belgien” oder von “Entführungsopfer Natascha K. aus Österreich” zu schreiben, wenn jeder weiß, dass Dutroux oder Natascha Kampusch gemeint sind. Und gerade “berühmte” Fälle sollten auch über unsere Volltextsuche zu finden sein.
- … wenn ein Name in mehreren Fällen auftaucht, und nur darüber ein eindeutiger Zusammenhang hergestellt werden kann.
- … wenn die Person selbst entschieden hat, mit ihrer Geschichte in der Öffentlichkeit verknüpft zu werden. Wenn ein.e Täter.in oder ein.e von Ritueller Gewalt Betroffene.r z.B. selbst ein Buch über seine/ihre Geschichte veröffentlicht hat, nennen wir natürlich auch den Namen, wenn wir die Autobiografie als Quelle angeben.
Wir machen Kompromisse, wenn…
- … wenn die Person einen Künstlernamen verwendet, denn dann nennen auch wir diesen Künstlernamen. “Oliver Shanti” zum Beispiel heißt eigentlich anders, das ist im Internet auch leicht zu finden. Aber als “Oliver Shanti” war er als Musiker weltbekannt und auch die Berichterstattung hätte vielleicht weniger Wellen geschlagen, wenn er nicht berühmt gewesen wäre.
- … wenn die Quellen, auf die wir uns berufen, den Namen in ihren Überschriften oder Zitaten verwenden. Wir vermeiden den Namen dann in unserem Text, in den Quellenangaben ist er evtl. aber doch zu lesen. Das können wir nicht verhindern, wenn wir unsere Quellen dokumentieren wollen.
Fazit: Wenn wir einen Namen nicht nennen, heißt das nicht, dass wir ihn nicht herausgefunden haben. Aber es geht hier nicht darum, einzelne Personen anzuprangern, sondern wir wollen belegen, dass es die entsprechenden Straftaten, Strukturen und Erkenntnisse gibt. Namen können unserer Meinung nach davon ablenken, weil “der/die Schuldige ja gefangen wurde”.
Wie geht das Infoportal mit anonymen Hinweisen um?
Wir nehmen anonyme Hinweise ernst und versuchen, sie durch öffentlich zugängliche Quellen oder durch unser Archiv zu verifizieren.
Da wir auf Basis nachvollziehbarer Quellen arbeiten, werden wir anonyme Hinweise nicht veröffentlichen. Einzelne Ausnahmen bedürfen einer sehr guten Begründung – auch diese werden wir gegebenenfalls dann mit veröffentlichen. Dabei wird die Quelle größtmöglichst geschützt.
Wir dokumentieren anonyme Zuschriften oder Briefe intern in unserem Archiv und hoffen, dadurch Querverbindungen zu anderen Hinweisen oder Quellen herstellen zu können. Den Hinweis selbst (Brief, Mail, Notiz, in welcher Form auch immer) archivieren wir wie die meisten unserer Unterlagen im Original und als digitale Kopie, um ihn mehrfach z.B. gegen Brände, Wasserschaden oder Einbrüche abzusichern. Wir behalten uns vor, anonyme Hinweise, durch die wir uns selbst oder unsere Arbeit gefährdet sehen (man kann ja auch “zuviel wissen”), zu vernichten.
Grundsätzlich sind uns natürlich zitierfähige Quellen, deren Urheberschaft erkennbar ist, lieber. Aufgrund der Brisanz unseres Themas wissen wir aber, dass das nicht immer geht und gehen sensibel damit um. Wie Sie uns anonyme Hinweise geben können, finden Sie auf unserer Kontaktseite.
Wie geht das Infoportal mit Berichten von Austeiger/innen um?
Viele Austeiger/innen veröffentlichen ihre eigenen Biografien oder die Informationen, an die sie sich erinnern, in Büchern oder in Blogs, in Videos, Foren oder anderen Stellen online. Meistens ist ihre Situation so, dass sie entweder keine Anzeige erstatten konnten, oder dass sie Anzeige erstattet haben, dass es aber nicht zu einem Gerichtsurteil oder sogar zu einem Freispruch der Beschuldigten kam.
Grundlage der Informationen, die wir hier veröffentlichen, sollten aber immer Gerichtsurteile oder wissenschaftliche Studien sein, das haben wir uns selbst als Aufgabe gestellt. Insofern finden Sie bei uns keine Informationen, die ausschließlich auf der Aussage von Aussteiger/innen beruhen. Das bedeutet nicht, dass wir diesen Berichten nicht glauben. Aber es geht uns darum, die Fälle zu präsentieren, die gerichtlich bestätigt werden konnten. Wenn Fälle durch ein Urteil bestätigt wurden, verweisen wir in unseren Texten selbstverständlich auch auf die dazugehörigen Bücher der Aussteiger/innen.
Es gibt im Internet diverse Selbsthilfeseiten und Vernetzungsangebote von Austeiger/innen. Unter anderem verlinkt unser Projektpartner, der Verein “Lichtstrahlen Oldenburg e.V.” als Selbsthilfeplattform solche Angebote. Deshalb haben wir uns die Arbeit aufgeteilt und erstellen keine eigene Rubrik für Berichte von Aussteiger/innen, sondern verweisen dafür gerne auf die Webseite von “Lichtstrahlen Oldenburg e.V.”.
Ich habe einen Text / eine wissenschaftliche Arbeit über Rituelle Gewalt geschrieben. Wollen Sie im Infoportal meinen Text veröffentlichen?
Grundsätzlich stellen wir hier frei zugängliche Informationen zusammen und verlinken sie nach Möglichkeit. Wir stellen selbst aber keine Downloads zur Verfügung.
Wenn Ihre Arbeit (z.B. Diplom- oder Bachelorarbeit) irgendwo online zu finden ist, freuen wir uns auf einen Link dorthin, insbesondere aus der Wissenschaft. Denn hier sind wir nicht so kundig aufgestellt wie bei Urteilen und Strafsachen. Es gibt ja Online-Portale, auf denen z.B. Abschlussarbeiten veröffentlicht werden können. Bitte suchen Sie sich einen anderen Partner dafür und sagen Sie uns dann gerne, wo wir Ihren Text verlinken können.
Warum ist das Infoportal Rituelle Gewalt nicht bekannter?
Derzeit (April 2020) ist unsere Seite in den üblichen Suchmaschinen gut zu finden, meist unter den ersten 10 Treffern. Wir haben ca. 400 Besucherinnen und Besucher pro Tag auf unseren Seiten.
Sie können uns helfen, dass dieses Suchmaschinen-Ranking zu halten: Wenn Sie uns von Ihrer Webseite oder Ihrem Blog aus verlinken, werden wir auch von Suchmaschinen besser gefunden. Zitieren Sie auch gerne unsere Texte und verlinken Sie dann in einzelne Beiträge oder z.B. auf unsere Begriffserklärungen oder Definitionen. Alles hilft dabei, dass andere, die sich über Rituelle Gewalt informieren wollen, sachliche Informationen bekommen.
Viele Urteile im Infoportal beziehen sich auf Einzelpersonen. Gibt es keine Urteile gegen Täter-Netzwerke?
Darauf gibt es mehrere Antworten:
Erstens finden wir gar nicht, dass es wenige verurteilte Netzwerke gibt. In vielen unserer eingepflegten Fälle wurden mehrere Täter/innen verurteilt, die gemeinsam die Rituellen Straftaten verübt haben. Diese Informationen finden Sie in den Rubriken
- Urteile in Deutschland
- Urteile im Ausland
- Wer sind die Täter/innen? und
- Religiöse und Ideologische Hintergründe
Zweitens ist es das Grundprinzip unseres Strafrechtes, dass Menschen verurteilt werden, wenn das Gericht als erwiesen ansieht, dass sie als Einzelperson konkrete einzelne Straftaten verübt haben. Eine andere Vorgehensweise wäre quasi “Sippenhaft”, und die gibt es in Deutschland juristisch nicht (aus gutem Grund). Die Organisation hinter einer Straftat wird grundsätzlich nicht verurteilt, ist aber häufig dennoch bekannt. Deshalb machen wir diese Aspekte ja hier im Infoportal sichtbar.
Drittens gibt es ein Definitionsproblem. Ab wann ist eine Gruppe eine Gruppe? Sind z.B. Menschen, die im Internet Fotos von Kindesmisshandlungen tauschen, eine kriminelle Gruppe oder ein organisiertes Netzwerk? Oder sind es eher “anonyme Zufallsbekanntschaften”? Braucht es zwei, fünf oder 10 Personen, um eine kriminelle Vereinigung zu bilden? Laut Definition des Bundeskriminalamtes für Organisierte Kriminalität [Link zum Web-Archiv] reichen “mehr als zwei Menschen”, deren Taten, Motive und Vorgehensweisen dann aber eine Reihe weiterer Kriterien erfüllen müssen, die bei Ritueller Gewalt schwer nachzuweisen sind. Für unser Infoportal funktioniert diese Definition aber nicht, denn oft wird nur ein.e Täter.in verurteilt, obwohl es wahrscheinlich weitere gab, aber die Beweislage reichte eben nur für ein einziges Urteil aus. Deshalb haben wir uns entschieden, eine Kategorisierung nach Einzel- oder Gruppentaten vorerst nicht vorzunehmen. Weitere Erläuterungen dazu finden Sie auf unserer Seite “Einzel- oder Gruppentäter.innen?”
Außerdem haben wir in Nachfragen und Gesprächen gelernt, dass sich hinter der Kritik “Aber Ihr habt ja nur Urteile gegen Einzeltäter.innen” oft ein ganz anderer Gedanke verbirgt: nämlich die unausgesprochene Annahme, dass Rituelle Gewalt von geheimen und verdeckt agierenden Geheimbünden oder Logen verübt wird. Und in dem Moment, wo es ein Urteil gibt, ist “halt mal jemand aufgeflogen”, aber die “wahre Rituelle Gewalt” findet weiter im Geheimen statt.
Das mag ja auch häufig so sein. Aber hier dreht sich eine Argumentation im Kreis: Wir können nicht einerseits beklagen, dass Rituelle Gewalt noch nie bewiesen und ermittelt wurde, und gleichzeitig jeden Fall, der bewiesen und ermittelt wurde, per se aus dem Bereich “Rituelle Gewalt” herausdefinieren, nur weil er sichtbar wurde. Dann würde Rituelle Gewalt per Definition niemals beweisbar sein, weil die Kategorie “geheim” ein elementarer Bestandteil geworden ist. Und das kann niemand wollen, der oder die an der Aufklärung dieser Verbrechen interessiert ist.
Warum ist es wichtig, über Rituelle Gewalt Bescheid zu wissen? Juristisch gesehen ist ein Mord ein Mord, Körperverletzung ist Körperverletzung. Warum sollte das bei Ritueller Gewalt anders gehandhabt werden?
Darauf gibt es mehrere Antworten – wir fangen mal eine Liste an.
- Video-Tipp: Im Dezember 2022 hat unsere Redakteurin Claudia Fischer für die Karin und Walter Blüchert-Stiftung einen Vortrag zu Gewalt und Religion gehalten, der per Video verfügbar ist. Darin wird genau diese Frage beantwortet: Welche Bedingungen Gewalt in religiösem oder ideologischem Kontext von Gewalt ohne diesen Rahmen unterscheiden. Das Video können Sie hier ansehen: https://vimeo.com/791795680. Hervorragend ergänzt wurde der Vortrag von der Rednerin danach, Sonja Howard, Mitglied im Betroffenenrat der UBSKM. Diesen Vortrag können Sie hier ansehen: https://vimeo.com/788244276.
- Manipulation ist nicht strafbar, schützt aber die Täter.innen: Wenn erwachsene, volljährige Menschen in einer religiösen oder ideologisch geprägten Gemeinschaft Gewalt erleben, haben sie es schwer, dies später anzuzeigen oder vor Gericht auszusagen. Denn die Täterinnen und Täter, die in solchen Gemeinschaften Gewalt ausüben (häufig die Leitungsebene) kann sich meist darauf berufen, die Zeug*innen hätten der Gewalt doch zugestimmt. Sie seien doch freiwillig in der Gemeinschaft gewesen und hätten sich zum Beispiel einem Exorzismus oder Ritualen “sexueller Befreiung” unterzogen. Und damit fällt es den Gerichten schwer, Körperverletzungen von “religiösen oder sexuellen Spielarten” zu unterscheiden. Diese Strategie, dass Täter*innen sich später auf die Zustimmung der Geschädigten berufen und diese teilweise mit Unterschriften, Fotos oder Chatverläufen nachweisen können, sind in mehreren Fällen zu beobachten. Die betroffenen Personen, denen die Gewalt angetan wurde, erklären häufig im Nachhinein, sie seien im Rahmen der religiös oder ideologisch geprägten Gruppierung zu solchen Zustimmungen manipuliert worden – Manipulation ist aber nicht strafbar und nur sehr schwer nachweisbar, so dass die Justiz an ihre Grenzen kommt, Täter*innen zu verurteilen. Also passiert zwar die Gewalt, aber die Behörden haben keine Handhabe, diese Gewalt auch juristisch zu ahnden – oder auch nur statistisch zu erfassen. (Siehe Punkt weiter unten “Mehr Glaubhaftigkeit”.)
- Schutz durch Religionsfreiheit: Die Freiheit der Religion oder Weltanschauung wird z. B. im Grundgesetz Art. 4, aber auch in der UN Menschenrechtskonvention und bei den Kinderrechten garantiert. Ein hohes Gut, aber: Hier kommen gesellschaftlich oder staatlich garantierte Gewaltschutzmaßnahmen teilweise an ihre Grenzen. Ist es sehr religiösen Eltern erlaubt, ihre minderjährigen Kinder einem Exorzisten zu übergeben, weil sie glauben, diese Kinder seien vom Teufel besessen? Ist es ideologisch schützenswert, wenn Eltern sich weigern, ihre Kinder impfen, röntgen oder anderweitig medizinisch versorgen zu lassen? Oder ist das Gewalt oder zumindest Kindeswohlgefährdung, wenn Eltern sich in dieser Weise auf ihr Sorgerecht berufen? Wo darf, kann, soll, muss der Staat z. B. über ein Jugendamt einschreiten? Oder ist es für Kinder besonders hilfreich und sorgend, wenn sie in einem festen Glaubenskonstrukt aufwachsen? Die Grenzen sind oft nicht leicht zu ziehen. Aber auch auf Täter*innenseite haben starke Religiösität oder ideologisch geprägte Weltbilder einen Einfluss auf die staatlichen Reaktionen: Nicht selten werden Täter*innen, die aus religiösen oder weltanschaulichen Motiven Menschen verletzt oder getötet haben, danach in forensische bzw. psychiatrische Behandlung verwiesen. Hier vermischen sich juristische, religiöse und psychiatrischen Antworten auf Gewalttaten miteinander. Deshalb ist es wichtig, die Sphäre einer religiösen oder ideologischen Prägung nicht auszublenden, denn auch Richterinnen und Richter haben ein Weltbild, aus dem heraus sie Entscheidungen treffen. (Siehe Punkte weiter unten: “Auswirkungen auf das Strafmaß” und “Auswirkungen auf Resozialisierung”.
- Mehr Glaubhaftigkeit: Betroffene Menschen erleben immer wieder, dass sie extreme Gewalttaten oder gut organisierte Täter/innenstrukturen bei der Polizei anzeigen wollen, und dass es dort heißt: “Das gibt es alles gar nicht, das konnte noch nie bewiesen werden.” Polizei, BKA und Landeskriminalämter wiederholen immer wieder, “Wir haben kein Lagebild, also gibt es das nicht.” Dass es kein Lagebild gibt, das stimmt, hat aber simple statistische Gründe: Hinweise auf Hintergründe und Zusammenhänge werden nicht als Kriterium in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst. Wir hoffen, dass eine Registrierung dieser Zusammenhänge die grundsätzliche Bereitschaft erhöhen würde, solche extremen und organisierten Verbrechen für denkbar zu halten.
- Mehr Ressourcen für Ermittlungen: Unter Umständen kann man erst, wenn man systematisch auf die verschiedenen Verbrechen und nachgewiesenen Fälle schaut, Täter/innenstrategien oder Ermittlungsansätze erkennen. Nicht umsonst ist der Bereich “Organisierte Kriminalität” ein spezielles Feld, in dem speziell geschulte Ermittler/innen tätig sind. Das fängt schon bei der Möglichkeit an, Ermittlungen über Landes- und Bundesländergrenzen hinweg führen zu können. Für ein einzelnes Strafverfahren einer lokalen Polizeidienststelle ist das sehr mühsam, für die Täter/innen ist es hingegen ein Leichtes, ins Ausland oder kreuz und quer durch Deutschland zu fahren und ihre Taten zu begehen. Das belegen viele der hier dokumentierten Fälle. Vielleicht sollten die Kompetenzen von Ermittlungsteams bei Ritueller Gewalt erweitert werden, um den Taten auf die Spur zu kommen? Eine Anerkennung als Organisierte Kriminalität (OK) wäre ein erster Schritt – aber dazu müsste man erst mal anerkennen, dass es Rituelle Gewalt überhaupt gibt. Vorher kann sie auch nicht als OK eingestuft werden.
- Mehr und/oder andere Hinweise entdecken: Bestimmte Erkenntnisse erschließen sich für die Strafverfolgung nur, wenn man sich mit den Strategien der Täter/innen beschäftigt. Wenn man im Bereich Ritueller Gewalt nur von “gewöhnlichen Taten” wie Mord, Vergewaltigung oder Körperverletzung ausgeht, erkennt man manche Hinweise (z.B. auf unter einer Leiche vergrabene Steine) vielleicht nicht oder deutet sie falsch. Ansätze für solche Details finden Sie in unseren Fallbeschreibungen. Ähnliches gilt für Ermittlungen in der Rechten Szene. Immer wieder berichten uns Betroffene davon, von einschlägig aktiven rechten Tätergruppen misshandelt worden zu sein oder entsprechende Symbole wie Hakenkreuze etc. gesehen zu haben. In der Berichterstattung über die Rechte Szene kommen die nachgewiesenen Verstrickungen mit Sexualisierter Gewalt (z.B. als Einnahmequelle?) nur sehr selten vor. Dabei gibt es viele Hinweise – klicken Sie doch einmal auf den Begriff “Rechte Ideologie” in unserer Stichwortwolke. Die Rechercheure, die gerade 2018/2019 immer mehr Netzwerk-Aktivitäten der Rechten Szene aufgedeckt haben, thematisieren das aber so gut wie nie. Vielleicht gibt es hier einen blinden Fleck, weil die Existenz Ritueller Gewalt nach wie vor nicht im Bewußtsein auch politisch interessierter Menschen ist?
- Sachkenntnis bei der Vernehmung von Verdächtigen: Dr. Rainer Fromm, sachkundiger Journalist und Politologe, wies bei einer Tagung in Trier 2009 (Dokumentation zum Download hier) auf folgende Aspekte hin, die Auswirkungen auf die Aussagen z.B. von Menschen aus dem satanistisch-okkultistischen Spektrum haben:
“Satanslogen arbeiten mit einer solgenannten Arkandisziplin, das heißt Verschwiegenheitsgeboten. Nicht wenige Gruppen verlangen von ihren Anhängern sogar das Einverständnis, dass der Kult oberste Priorität in ihrem Leben hat und sich alle anderen sozialen Institutionen wie etwa die Familie unterordnen müssen. Inbesondere eine Vorordnung der Loge vor den Staat ist im Rahmen polizeilicher Arbeit interessant, wenn man weiß, welche Wertigkeit z.B. eine Aussage gegenüber einem staatlichen Organ hat.” [1]
Salopp formuliert: Wieviel ist eine polizeiliche oder gerichtliche Aussage wert, wenn man weiß, dass die befragte Person die staatliche Autorität verneint, nicht ernst nimmt und/oder verachtet? Dass man es mit Menschen zu tun hat, die sich eher als Helden oder Märtyrer empfinden, wenn sie von einer Polizei vernommen werden, die sie zutiefst verachten, sollte man im Hinterkopf haben. Sonst laufen solche Vernehmungen ins Leere.
- Sachkenntnis bei der Befragung traumatisierter Opfer: Fachleute aus der Traumaforschung bemängeln seit vielen Jahren, dass Ermittler/innen oder Richter/innen mehr über Traumafolgen und Gehirnforschung wissen sollten. Zum Beispiele haben über Jahre eingeschüchterte Kinder ein sehr feines und lange geschultes Gespür dafür, was ein/e Erwachsene/r von ihnen hören will, und werden entsprechend aussagen. Dass sie mit solchen “Lügen” auffallen, ist wahrscheinlich – heißt aber nicht, dass die Taten nicht passiert sind, sondern nur, dass die Macht der Täter/innen noch stark wirkt. Zweitens können stark dissoziative Menschen (siehe Begriffserklärung zu DIS) keine konsistenten Aussagen vor Gericht machen, weil ihre Erinnerung auf verschiedene Innenpersonen aufgeteilt wurde. Mit einer entsprechenden Fragetechnik lassen sich aber vielleicht doch die für Ermittlungen notwendigen Fragmente finden. Spezielle Schulungen für Justizangehörige, Richter/innen und/oder Ermittler/innen wären sehr wünschenswert und wurden z.B. schon 1998 von der Enquete-Kommission des Bundestages gefordert. Es gibt bis heute sogar Tagungen nur zu diesem Thema [Link zum Web-Archiv] – leider fehlen entsprechende Ausbildungsangebote, weil Rituelle Gewalt nicht als eigenständiges Kriminal-Phänomen ernst genommen wird.
- Auswirkungen auf das Strafmaß: Der ideologische oder religiöse Hintergrund eines Täters/einer Täterin hat Auswirkungen auf Strafmaß und Rehabilitationsaussichten. Manche der hier dokumentierten Urteile zeigen, dass die Täter/innen für psychisch krank und damit vermindert schuldfähig erklärt wurden, “nur” weil sie an Satan glauben. Aber Menschen mit einer starken Überzeugung, auch wenn sie vom Mainstream abweicht und sich teilweise absurd anhört wie manche Sektenaussagen, sind nicht automatisch unzurechnungsfähig. Im Gegenteil: manche Straftaten und destruktive Ideologien kommen nah an den Bereich von Verfassungsfeindlichkeit. Manche Sekten wären, wenn sie eine nennenswerte Anzahl Anhänger/innen von sich überzeugen, eine Gefahr für unsere Demokratie. Dies ist ein bislang vernachlässigter Aspekt bei der Diskussion über Rituelle Gewalt, weil die Urteile sich “nur” auf die sexualisierten oder sadistischen Komponenten von Körperverletzungen mit oder ohne Todesfolgen konzentrieren.
- Auswirkungen auf die Resozialisierung: Gleichzeitig beinhalten destruktive Ideologien häufig auch einen grundsätzlichen Zweifel an unseren “irdischen” Institutionen. Beispielsweise berufen sich christlich-fundamentalistische Menschen teilweise darauf, in Deutschland “politisch verfolgt” zu werden, nur weil unser Staat nicht akzeptiert, dass sie ihren Kindern die Schöpfungsgeschichte erzählen und nichts über die Evolution beibringen. Dies hat Auswirkungen darauf, wie wir mit den Menschen umgehen müssen, um sie nach einer Straftat wieder in die Gesellschaft zu integrieren und zu rehabilitieren. Wird das nicht beachtet, sind sogenannte “Rückfalltaten” vorprogrammiert, weil die Überzeugungen nicht verändert wurden.
- Strukturen erkennen: Aussteiger.innen aus Ritueller Gewalt berichten davon, dass Täter/innengruppen einzelne Gruppenmitglieder quasi “dem Staat opfern”, indem diese alle Schuld auf sich nehmen müssen, um sich als Einzeltäter.innen verurteilen zu lassen und so die Gruppe und Struktur zu schützen. Ein geschulter Blick darauf, dass religiöse oder ideologische Gruppen evtl. organisiert ihre Straftaten begehen, kann helfen, solche “Bauernopfer” aufzudecken und den Betroffenen zu glauben und hellhörig zu werden, wenn sie berichten, es habe noch mehr Täter/innen gegeben.
Diese Liste können und werden wir nach und nach verlängern.
Quellen:
[1] Vortragsdokumentation von Fromm, Rainer, “Rituelle Gewalt: Womit haben wir es zu tun?”, zitiert nach der Tagungsdokumentation der Tagung vom 6. November 2009 in Trier, “Rituelle Gewalt – Vom Erkennen zum Handeln”, Pabst Science Publishers , Lengerich 2011 (Dokumentation zum Download hier)
Ist Rituelle Gewalt eigentlich Organisierte Kriminalität?
Leider nein. “Organisierte Kriminalität” ist ein feststehender Begriff, der vom Bundeskriminalamt (BKA) definiert wird:
“Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken.” (zitiert nach Tagesschau.de, Quelle siehe unten)
Das klingt, als würde auch Rituelle Gewalt nach den meisten Definitionen unter diese Kategorie fallen – tut sie aber nicht.
Bei Straftaten und Ermittlungsverfahren, die vom BKA als Organisierte Kriminalität eingestuft werden, gibt es spezielle Ermittlungsmöglichkeiten, die ohne diese Einstufung nicht zur Verfügung stehen. Es gab in den vergangenen Jahren Inititativen, das BKA dazu zu bewegen, Rituelle Gewalt als Organisierte Kriminalität einzustufen, aber das wurde abgelehnt.
Ein sehr informativer Hintergrundartikel zu den Konsequenzen dieser Einstufung ist im Oktober 2019 auf tagesschau.de [Link zum Web-Archiv] erschienen. In dem Bericht wird Rituelle Gewalt zwar nicht erwähnt, aber es wird anhand von großen Wirtschaftsstrafsachen und Clankriminalität erläutert, welche Gründe und Konsequenzen die Einstufung oder Nicht-Einstufung als Organisierte Kriminalität für die Ermittlungen hat.