Auf diese Frage gibt es im Fall von Paul Schäfer und der Colonia Dignidad viele verschiedene Antworten. Manche davon sind gut übertragbar auf andere Fälle Ritueller Gewalt. Insofern lohnt sich eine Beschäftigung mit diesem Fall, wenn man das Phänomen Rituelle Gewalt verstehen will. Die Journalistin Ulla Fröhling hat in ihrem Buch “Unser geraubtes Leben” von 2012 viele Täterstrategien Schäfers herausgearbeitet und in einen Kontext mit anderen Fällen oder mit der Zeitgeschichte gesetzt. [1]
Die gesellschaftliche Tabuisierung sexualisierter Gewalt
Paul Schäfer war schon in den 1950er Jahren immer wieder wegen gewalttätiger Übergriffe auf Jungen aufgefallen. Die Eltern taten sich oft sehr schwer, diese Taten anzuzeigen. Arbeitgeber zogen es vor, ihn zu suspendieren oder zu versetzen, anstatt ihn anzuzeigen.
Die zerstörerische Kraft sexualisierter Gewalt
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder, die zudem den Eindruck haben, dass Erwachsene diese Gewalt dulden, kann Seelen und Persönlichkeiten zerstören. Ulla Fröhling beschreibt das mit den Worten:
“Wenn hier Angriffe stattfinden und kein Schutz möglich ist, verschwinden die Grenzen und jedes Gefühl von Sicherheit. Menschen werden beliebig manipulierbar und ausbeutbar.” [2]
Schäfer begleitete seine eigenen Übergriffe auf Kinder stets mit einer rigide ablehnenden Haltung gegen Sexualität. Er predigte Enthaltsamkeit, bestrafte und unterstellte schon Kindern sexualisierte Gedanken. Zweifel waren verboten, Mitwisserschaft und Schuldgefühle verstärkten die Bindung an ihn. Diese Kombination lässt Menschen schweigen.
Die christliche Ethik
Sowohl in der katholischen als auch (wie in Schäfers Fall) in der evangelischen Kirche ist immer wieder zu beobachten, dass Täter quasi als “verirrte Schafe” betrachtet und behandelt werden und man “das Problem” intern lösen will, durch Versetzung oder Suspendierung. Offizielle Strafanzeigen werden oft gemieden. Ulla Fröhling spricht von einer “unheiligen Bindung zwischen Sexualstraftätern und Kirche” und zitiert dazu die Kriminalpsychologin Anna Salter:
“Ich habe gefilmte Interviews mit diesen Tätern; sie sagen, ich mag die Kirchenleute am liebsten, weil sie nach dem Besten in den Menschen suchen, weil sie glauben, dass in jedem Gutes ist. Und die Täter rutschen direkt unter diesem optimistischen Radar hindurch.” [3]
(Mehr zum christlichen Hintergrund finden Sie unter “Religiöse und ideologische Hintergründe”)
Weitgehend geschlossene, hierarchische Systeme
Kloster, christliche Internate, die Regensburger Domspatzen, das Canisius-Kolleg oder auch von den großen Amtskirchen abgespaltene Gemeinden (Orden, Freikirchen, …) sind anfällig dafür, sich zu einer Art “Parallelgesellschaften” zu entwickeln, die eigene Regeln, Gesetze und Sanktionen entwickeln. Bei evangelischen Freikirchen (dort war die Keimzelle für Schäfers “Private Sociale Mission”) kommt hinzu, dass sich dort oft entwurzelte Menschen sammeln, die Orientierung in einer neuen, unbekannten Heimat suchen, z.B. nach Flucht und Vertreibung aus Osteuropa.
Paul Schäfer hat das früh erkannt und konsequent umgesetzt, indem er seine eigene “Private Sociale Mission” gründete, sich von der Amtskirche unabhängig machte und später in Chile die Colonia Dignidad aufbaute. Schon 1949 hatte er zu einer Anhängerin gesagt:
“Ich brauche einen Ort, wo mir niemand reinriecht.” [4]
Um die Gruppenbindung zu stärken, etablierte er eigene Begrifflichkeiten und Redewendungen, quasi eine eigene Sprache. Er erhob sich selbst in die Rolle des “Wissenden”, wurde als “der heilige Mann” bezeichnet und präsentierte sich seinen Anhänger/innen als Verfolgter, getriezt und verleumdet von den “anderen”, den Ungläubigen. [1]
Wie stark die Gemeinschaft in der Colonia Dignidad Störenfriede von außen verteufelte, wurde deutlich, als der Stern 1988 berichtete, dass Journalisten, die über eine chilenische Untersuchungskommission auf dem Gelände der Kolonie berichten wollen, von Bewohner/innen der Kolonie mit Steinen beworfen wurden. [5]
Spaltung und Isolation
Paul Schäfer verstand es meisterhaft, seine Anhänger/innen zu verunsichern und zu isolieren. Das weist Ulla Fröhling in ihrem Buch “Unser geraubtes Leben” sehr überzeugend nach. Er trennte Kinder von ihren Eltern, trennte Paare und Geschwister voneinander, kontrollierte, genehmigte oder befahl Hochzeiten, brachte Familien gegeneinander auf, schaffte Außenseiter und strenge Hierarchien innerhalb seiner Kolonie. Damit isolierte und verunsicherte er viele seiner Anhänger/innen derart, dass sie – gepaart mit körperlicher Erschöpfung und Folter-Folgen – nur selten die Kraft hatten, zu fliehen und/oder gegen ihn auszusagen.
Angst, Abhängigkeit, Gehirnwäsche
Schäfer benutzte widersprüchliche Aussagen, Informationen aus Beichten, Erpressung, Schuldgefühle, Verrat, Denunziation und Foltermethoden wie Übermüdung, Unterernährung und Gebets-Marathons, um seine Anhänger/innen gefügig zu machen. Ferner behielt er die Pässe der Bewohner/innen ein und schottete die Colonia Dignidad in späteren Jahren mit Abhör- und Meldeanlagen, Zäunen und Wachvorrichtungen ab. Wer floh und zurück gebracht wurde, wurde misshandelt, auch als Warnung an die anderen. [1]
Eine eigene Sprache, Isolation, Manipulation, Angst und Abhängigkeit gepaart mit strengen Glaubensregeln und Gebeten sind eine sehr wirksame Gehirnwäsche. Bis heute sind viele Anhänger/innen von Paul Schäfer nicht gewillt, ihn und seine Führungselite anzuzeigen oder gegen sie auszusagen. Dies belegen mehrere Interviews in einem ARD-Fernsehfilm von 2016. [6]
Die Flucht über Landesgrenzen
Schon vor 1961, also noch in Deutschland, zog Schäfer regelmäßig auch in verschiedene Bundesländer um. Das tun manche Täter/innen auch heute noch, denn das erschwert Ermittlungen, weil Polizei und Justiz Ländersache sind. Durch seine Flucht nach Luxemburg und von dort nach Chile entzog sich Paul Schäfer dann gänzlich den Ermittlungen in Deutschland.
Ausnutzen des politischen Zeitgeistes
In Chile fand Schäfer 1961 eine Regierung vor, die ihn in den ersten Jahren in Ruhe seine Kolonie errichten ließ. Das große Engagement der Colonia Dignidad, die unwirtliche Landschaft am Rande der Anden bewohnbar zu machen und eine Infrastruktur aufzubauen, wurde begrüßt – zumal 1961 ein schweres Erdbeben Chile erschüttert hatte.
Nachdem im September 1973 der General Augusto Pinochet durch einen Militärputsch an die Macht kam, schaffte Schäfer es, sich mit dieser Regierung zu verbünden. Dies geschah in der Zeit des Kalten Krieges. Staaten konnten sich diplomatisch quasi nur zwischen zwei Alternativen entscheiden: Zum Block der USA- oder der UdSSR-Verbündeten zu gehören. Der Spiegel berichtet von den Erinnerungen des ehemaligen Staatsministers im Auswärtigen Amt (1976 bis 1981), Klaus von Dohnanyi:
“Um der Stabilität willen waren wir auch bereit, manchmal Kompromisse einzugehen.”
Weiter schreiben die Spiegel-Autoren:
“Die Blockbildung und die damit einhergehende Solidarität mit den USA gaben die Haltung vor. Und damit auch das Verhältnis zu den Militärdiktaturen Lateinamerikas. Dass der chilenische Geheimdienst Kritiker verschwinden ließ? Nicht schön, aber vielleicht nötig. Dass im Nachbarland Argentinien auch junge Deutsche umgebracht wurden? […] Kein Grund, die Beziehung ernsthaft zu hinterfragen.” [7]
In diesem Zeitgeist wurden die Berichte aus der Colonia Dignidad nicht ernst genommen oder angezweifelt.
Besondere Unterstützung genoss Paul Schäfer von deutschen Unions-Politikern, insbesondere von der CSU und von Franz-Josef Strauß. Strauß und andere CSU-Politiker waren in der Kolonie zu Gast und kamen voll des Lobes zurück. Nicht zuletzt hatte Schäfer ihnen und auch chilenischen Besuchern in der Colonia Dignidad ein sehr konservatives süddeutsches Deutschland-Bild präsentiert: Jungen und Männer in kurzen Lederhosen, Mädchen und junge Frauen mit gescheitelten Haaren, Volkslieder und Blasmusik, Bier und Sauerkraut.
So stand Schäfer unter dem Schutz der Politiker in Chile und des deutschen Botschafters, der die Kritik aus Deutschland immer wieder entkräftete. [7]
Zum Verhalten des Personals des Auswärtigen Amtes ist seit Anfang 2016, nachdem Bundesaußenminister Steinmeier die Schutzfrist der Akten zur Colonia Dignidad verkürzt hatte, sehr viel in der deutschen Tagespresse veröffentlicht worden. [8] (Mehr dazu siehe unter “Was sagt die Politik?”)
Mit der chilenischen Regierung verband Schäfer eine intensive Zweckgemeinschaft. Ulla Fröhling schrieb über den Putsch Pinochets:
“3100 bis 4000 Menschen werden ermordet oder verschwinden. Mehr als hundert von ihnen in der Colonia Dignidad. Nach dem Putsch wird [Manuel] Contreras Chef der neugegründeten chilenischen Geheimpolizei DINA. Er ist oft zu Gast in der Kolonie. Auch Pinochet und seine Gattin kommen gern.” [9]
Nicht zuletzt war die “Private Sociale Mission” als gemeinnützig in Deutschland anerkannt. Das führte zu Steuervorteilen und anderen Privilegien, z.B. erleichterten Zollvorschriften. [10] Der Spiegel berichtete, dass Schäfer so z.B. Waffen entgegen dem Uno-Waffenembargo ins Land schmuggeln konnte, die er an Pinochet weiter gab. [11]
Lügen und Betrug
Paul Schäfer ließ seine Anhänger fingierte Briefe nach Hause schreiben, wurde von Führungskräften verleugnet, wenn er vorgeladen wurde und brachte verschiedene Stellen in Chile (unter anderem die Deutsche Botschaft) dazu, geflohene Anhänger/innen immer wieder zu ihm zurück zu bringen. [1] 1985 flohen einige Bewohner/innen der Colonia Dignidad in die kanadische Botschaft, weil sie ihren deutschen Landsleuten nicht über den Weg trauten. [7]
Quellen:
[1] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012
[2] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 289
[3] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 25, Anna Salter 2001 und 2007
[4] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 61
[5] Der Stern berichtete mehrfach darüber. Die Artikel liegen uns im Original vor, allerdings ohne konkretes Veröffentlichungsdatum. Wir beziehen uns auf die Berichte “Helft, helft bitte, lasst mich nicht allein” (wahrscheinlich Mitte 1988), “Lokaltermin im Lager des Schreckens” (wahrscheinlich 1988 oder später) und “Ein deutscher Skandal – Das Lager des Schreckens” aus der Ausgabe 49/50 1987.
[6] Fernsehreportage “Die Sekte der Folterer”, ARD Erstausstrahlung 14.11.2016, bei youtube abgerufen am 6.2.2017
[7] Artikel auf Spiegel.de 11.7.2016, “Colonia Dignidad – Dokumente des Terrors”
[8] Exemplarisch seien hier genannt die taz 28.7.2016, “Der BND wusste lange Bescheid” [Link zum Web-Archiv], oder Der Spiegel 26.4.2016, “Terrorsekte Colonia Dignidad – Wieviel wusste die Diplomatie?” [Link zum Web-Archiv], abgerufen am 16.3.2023
[9] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 214f.
[10] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 156
[11] Artikel auf Spiegel.de 24.2.2016, “Colonia Dignidad heute”, abgerufen am 16.3.2023 [Link zum Web-Archiv]