Paul Schäfer wurde in Chile mehrfach verurteilt, z.B. in den Jahren 2006 und 2008, und auch einige Mittäter erhielten Haft- und Geldstrafen (Aktenzeichen des Haupt-Urteils: Rol Nº 12.293-2005). Die Angabe der Gesamt-Haftstrafe von Paul Schäfer wird von verschiedenen Quellen unterschiedlich angegeben, weil mehrere Prozesse und Urteile zusammen addiert wurden. Die Stuttgarter Zeitung veröffentlichte 2010 eine der detailliertesten Listen und schrieb von einer Haftzeit von insgesamt 33 Jahren. [1] Ferner wurden er und einige Mittäter verurteilt, an mehrere Opfer Entschädigungszahlungen zu leisten. [2]
Verurteilt wurde er für die Vergewaltigung und Folter von Kindern, für Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit [3].
Weitere Mittäter, teilweise aus der Führungselite der Colonia Dignidad, wurden verurteilt wegen Beihilfe zur Vergewaltigung, Freiheitsberaubung, Nichtherausgabe von Minderjährigen, Strafvereitelung, Waffenbesitz und wegen vieler anderer Delikte. [2] Im Dezember 2016 beschied der oberste Gerichtshof Chiles, dass die Colonia Dignidad unter Führung von Paul Schäfer gemeinsam mit dem chilenischen Geheimdienst Dina eine kriminelle Vereinigung bildete. Auf dem Gelände der Colonia Dignidad wurden auch Gegner der chilenischen Regierung gefoltert und ermordet. [4]
Je nach Quelle schwankt die Anzahl der nachweislich sexuall misshandelten Kinder und der verurteilten Mittäter. Grund für die unterschiedlichen Darstellungen sind die vielen verschiedenen Verfahren, die eingeleitet wurden.
Dabei wurde Paul Schäfer nur für die sexualisierte Misshandlung und Vergewaltigung von chilenischen Kindern verurteilt. Deren Mütter hatten ihn Mitte der 1990er Jahre in Chile angezeigt. Die vielfachen und jahrzehntelangen Vergewaltigungen deutscher oder von deutschen Sektenanhängern in Chile geborener Kinder wurden nie vor einem Gericht verhandelt.
Eine kleine Chronologie der Colonia Dignidad
Durch Überlebenden-Berichte und journalistische Recherchen sind Vorwürfe wegen pädokrimineller Handlungen von Paul Schäfer schon seit 1949 nachgewiesen. Die Journalistin Ulla Fröhling zitiert ihn aus dieser Zeit mit den Worten
“Ich brauche einen Ort, wo mir niemand reinriecht.” [5]
Dieses Ziel setzte er konsequent um: In Deutschland wurde er vor 1961 mehrfach wegen sexualisierter Gewalt gegen minderjährige Jungen angeschuldigt und verdächtigt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits eine eigene christliche Gruppierung, die “Private Sociale Mission” gegründet. Er floh, erst nach Luxemburg, dann nach Chile. Viele Kinder seiner Anhängerinnen und Anhänger nahm er mit – teilweise ohne Genehmigung der Eltern, teilweise mit den Unterschriften der Erziehungsberechtigten. (Siehe “Woher kommen diese Kinder?”) In Chile trennte er die Kinder von den Eltern, trennte Männer von Frauen, und errichtete ein strenges totalitäres System, in dem er die totale Kontrolle hatte. Damit hatte er freie Bahn, mit den Kindern zu tun, was immer er wollte. Sexuelle Übergriffe waren an der Tagesordnung – überwiegend auf Jungen, später auch auf Mädchen. [6]
Die Straftaten an den deutschen Kindern und an Erwachsenen in der Colonia Dignidad (Folter, Elektroschocks, Zwangsmedikation, Menschenraub, usw.) sind durch Zeugenaussagen Überlebender und Geflüchteter gut belegt, wurden aber nie abgeurteilt. Schäfer soll zeitweise täglich mehrere Jungen sexuell misshandelt haben. Die Journalistin Ulla Fröhling beschreibt in ihrem Buch “Unser geraubtes Leben” 2012, wie Schäfer sein Folterregime systematisch aufbaute, die Mitglieder seiner Sekte systematisch manipulierte und Gehirnwäsche betrieb. [6]
Schon 1966, fünf Jahre nach der Flucht nach Chile, wurden in Deutschland erste Berichte über die Gewalt in der Colonia Dignidad nachweislich bekannt. [7] 1977 veröffentlichte Amnesty International einen ausführlichen Bericht. Der “Stern” und andere Medien griffen die Vorwürfe auf und belegten sie durch Augenzeugeninterviews. 1988 kam es sogar zu einer Anhörung mit geflohenen Austeiger/innen vor dem deutschen Bundestag. Aber noch immer griff die deutsche Politik nicht ein, im Gegenteil. Die Colonia Dignidad wurde von Botschaftsangehörigen in Chile gedeckt. [8] (Siehe auch “Warum werden die Täter/innen selten gefasst und verurteilt?”, “Was sagt die Politik?” und “Soziale und gesellschaftliche Faktoren”)
In den Jahren 1988 und 1989 stellte die deutsche Rentenversicherung fest, dass mehrere Bewohner/innen der Colonia Dignidad Rentenzahlungen erhielten, obwohl sie sich schon seit Jahren nicht mehr persönlich bei der Botschaft vorgestellt hatten. Die Colonia Dignidad hatte Kulanz- und Sonderrechte eingeräumt bekommen, keinen Lebendnachweis für Rentenempfänger/innen vorlegen zu müssen. Es wird vermutet, dass Paul Schäfer und seine Führungselite allein durch diesen Betrug Millionenbeträge kassiert haben. [9]
Anfang der 1990er Jahre begann Schäfer, sich chilenische Kinder in die Colonia Dignidad zu holen, sie zu misshandeln und zu vergewaltigen. [9] Erst die Anzeigen ihrer Mütter führten 1997, dreißig Jahre nach den ersten Gerüchten über Schäfers Gewaltherrschaft, zu Ermittlungen gegen ihn. Er tauchte unter und floh nach Argentinien. Dort lebte er weitere acht Jahre und wurde erst am 11.3.2005 in einer Reichensiedlung außerhalb von Buenos Aires verhaftet. [10] 2006 wurde er erstmals verurteilt zu 20 Jahren Haft wegen sexualisierter Misshandlung von 27 chilenischen Kindern. Er starb am 24.4.2010 im Gefängniskrankenhaus von Santiago de Chile an einem Herzleiden. [11]
2016 räumte Bundesaußenminister Steinmeier Versäumnisse des Auswärtigen Amtes in den vergangenen 40 bis 50 Jahren ein. (Siehe “Was sagt die Politik?” und “Soziale und gesellschaftliche Faktoren”)
Deutsche Gerichtsurteile gegen Paul Schäfer und seine Komplizen gibt es nicht. Im Gegenteil: Ein in Chile verurteilter Arzt der Sekte flüchtete 2011 nach Deutschland, um seiner Haftstrafe in Chile für Beihilfe zum sexuellen Missbrauch in 16 Fällen [12] zu entgehen. Er lebt seitdem in Deutschland auf freiem Fuß – die Justiz prüft noch, ob das chilenische Urteil in Deutschland vollstreckt werden kann. Eine Auslieferung nach Chile wird es nicht geben, weil er deutscher Staatsbürger ist. [9]
Die Sektenmitglieder von Paul Schäfer leben entweder noch in Chile, teilweise auf dem Gelände der Colonia Dignidad, das heute als Freizeitzentrum mit Gastronomie und Ausflugslokal bewirtschaftet wird. Andere Sektenmitglieder sind nach Deutschland oder Österreich zurück gekehrt und leben meist verarmt – Rentenzahlungen erhalten sie nicht, weil sie nie eingezahlt haben. Einen Anspruch auf Entschädigung gegen die Täter haben sie nicht geltend gemacht oder machen können. [6], [9] 2016 wurden Bundesaußenminister Steinmeier und Bundespräsident Gauck auf Entschädigungen angesprochen, sahen aber keine Verantwortung für die Taten beim deutschen Staat. [14], [9] (Mehr dazu unter “Was sagt die Politik?”)
Quellen:
[1] Zeitungsartikel Stuttgarter Nachrichten, “Paul Schäfer: Proteste bei Begräbnis“, 26.4.2010, abgerufen 16.3.2023 [Link zum Web-Archiv]
[2] Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Partei Die Linke, 21.7.2016, Bundestagsdrucksache 18/9261
[3] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, Fußnote 10, S. 306
[4] Zeitungsartikel taz, “Eine kriminelle Vereinigung“, 1.1.2017, abgerufen am 16.3.2023 [Link zum Web-Archiv]
[5] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 61
[6] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012
[7] Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Partei Die Linke, 21.7.2016, Bundestagsdrucksache 18/9261
[8] Der Stern berichtete mehrfach über die Entwicklungen. Die Artikel liegen uns im Original vor, allerdings ohne konkretes Veröffentlichungsdatum. Wir beziehen uns auf die Berichte “Helft, helft bitte, lasst mich nicht allein” (wahrscheinlich Mitte 1988), “Lokaltermin im Lager des Schreckens” (wahrscheinlich 1988 oder später) und “Ein deutscher Skandal – Das Lager des Schreckens” aus der Ausgabe 49/50 1987.
[9] Fernsehreportage “Die Sekte der Folterer”, ARD Erstausstrahlung 14.11.2016, bei youtube abgerufen am 6.2.2017
[10] Zeitungsartikel Neue Westfälische, 12.3.2005, “Herrscher der Horror-Kolonie in Haft”
[11] Buch Fröhling, Ulla, “Unser geraubtes Leben”, Köln 2012, S. 7
[12] Zeitschriftenartikel Der Spiegel, “Sektenarzt Hopp soll in Deutschland in Haft“, 7.6.2016, abgerufen am 16.3.2023 [Link zum Web-Archiv]
[13] Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, Rede vom 26.4.2016, abgerufen am 16.3.2023 [Link zum Web-Archiv]